"Wir haben die neunziger Jahre nicht für Reformen genutzt"

Zwei Ökonomen über den Standort Deutschland / Löhne und Lohnkosten als Problem / Debatte um die Folgen der "Basar-Ökonomie"
Interview mit Hans-Werner Sinn und Michael Hüther, Süddeutsche Zeitung, 21.06.2005, S. 22

SZ-Streitgespräch zwischen Hans-Werner Sinn und Michael Hüther

(SZ) Zwei Ökonomen, zwei Wege: Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn und Michael Hüther, der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), sind sich einig, dass Deutschland weitere Wirtschaftsreformen braucht. Hüther weist auf erste Reformerfolge hin, Sinn sieht den Zustand der deutschen Volkswirtschaft weiter sehr kritisch. Bei der Süddeutschen Zeitung trafen sich beide zum Streitgespräch.

SZ: Herr Professor Sinn, viele Deutsche sind in großer Sorge. Rekordarbeitslosigkeit, Produktions- und, schlimmer noch, Jobverlagerung: Ist die früher führende Industrienation Deutschland am Ende?

Sinn: Noch nicht, aber sie ist gefährdet. Der deutsche Wohlstand ist gefährdet, was wir daran sehen, dass wir in den letzten zehn Jahren neben Italien und der Schweiz das niedrigste Wachstum in West- und Osteuropa hatten. Und die Arbeitslosigkeit liegt, selbst wenn man die offiziellen Zahlen um alle statistischen Sondereffekte bereinigt, auf dem höchsten Niveau der Nachkriegszeit.

SZ: Woher rührt diese lang andauernde Wachstumsschwäche?

Sinn: Ich führe sie zurück auf das Erscheinen der ex-kommunistischen Länder, die ein Drittel der Menschheit umfassen und jetzt eine Niedriglohnkonkurrenz sind. Dies beißt sich mit unserem Anspruchsniveau, welches sich in unseren Löhnen verkörpert.

SZ: Unsere Löhne sind nicht mehr wettbewerbsgerecht?

Sinn: So ist es, jedenfalls die Löhne für einfache Arbeit. Die deutschen Arbeiter haben ihre Wettbewerbsfähigkeit zum großen Teil schon verloren. Die Unternehmen investieren hier nicht mehr. Wir haben die zweitniedrigste Investitionsquote unter allen OECD-Ländern. Man sucht sich andere Standorte.

SZ: Um wie viel ist das Lohnniveau zu hoch?

Sinn: Das ist schwer zu sagen. Hätten wir in der Vergangenheit rechtzeitig gegengesteuert und wären die Löhne heute 15 Prozent niedriger, hätten wir manche Probleme nicht. Leider ist eine Projektion dieser Aussage in die Zukunft nicht möglich.

SZ: Was empfehlen Sie?

Sinn: Für eine ganze Weile darf der Produktivitätszuwachs nicht mehr verteilt werden. Die Arbeitnehmer sollten sich mit einer Kompensation für die Inflation begnügen, um allmählich wieder wettbewerbsfähig zu werden.

SZ: Herr Professor Hüther, sind Sie auch so pessimistisch?

Hüther: Nein, ich bin von Natur aus und als Ökonom Optimist.

SZ: Ihnen ist das deutsche Lohnniveau nicht zu hoch?

Hüther: Doch, grundsätzlich schon, wir haben unverändert ein Lohnniveauproblem, wenn wir auf die Arbeitskosten je Stunde im internationalen Vergleich schauen, aber das ist eben nur ein Teil der Wahrheit. Ich bin mir mit Herrn Sinn bei dem Befund der Wachstumsschwäche ja einig. Es ist auch richtig, auf die Löhne hinzuweisen. Aber, wissen Sie, die Löhne - und damit die Lohnpolitik - sind nicht das einzige zentrale Problem. Wir müssen insgesamt die Arbeitskosten in den Blick nehmen. Und da findet sich eine weitere zentrale Ursache, die in dieser Situation eines härteren internationalen Wettbewerbs ihre Wirkung entfaltet, und das ist die Überdehnung des Sozialstaates seit den sechziger Jahren. Die Politik hat die Illusion genährt, man könnte den Einzelnen möglichst lange und möglichst umfassend vor Risiken bewahren. Wir haben die neunziger Jahre nicht genutzt als Zeit der Reformen, um die Fehlanreize zu korrigieren und die Ausgabendynamik in den Sozialsystemen zu stoppen.

SZ: Sozialausgaben schlagen sich für die Unternehmen als Lohnzusatzkosten nieder. Diese also müssen runter, dann kann das Lohnniveau gehalten werden?

Hüther: Es wird ja gar nicht mehr gehalten. Schauen Sie sich doch an, was es bereits alles an Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt: Da ist - wenn auch weitaus zu spät und noch zu wenig - einiges in Bewegung. Und die Unternehmen haben es über ihre Verbände auch in der Hand, Abhilfe zu schaffen. Dem Teil der Arbeitskosten aber, der nicht aus den Tarifverhandlungen kommt, also nicht aus der Lohnpolitik, dem sind sie hilflos ausgeliefert. Der Blick auf die Lohnpolitik greift deshalb zu kurz. Wir müssen letztlich auch zu Kürzungen in der Sozialversicherung kommen.

SZ: Der Gesetzgeber also ist schuld, nicht die Tarifparteien. Warum, Herr Professor Sinn, wollen Sie dann unbedingt die Macht der Gewerkschaften brechen?

Sinn: Also, erstens: Klar kann man die Lohnzusatzkosten anderweitig finanzieren - aber wie eigentlich? Wer soll denn da noch zusätzlich belastet werden? Und zweitens besteht doch die Gefahr, dass die Gewerkschaften den dann zusätzlichen Verteilungsspielraum wieder nutzen und für höhere Löhne streiten. Das wird so gehen, solange wir hier die Macht der Gewerkschaften nicht beschneiden. Man muss an die Organisation des Arbeitsmarktes insgesamt ran. Nein, das Thema Lohnzusatzkosten ist zu vordergründig. Da wollen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bequem Verteilungsgewinne zu Lasten Dritter einheimsen.

SZ: Was haben Sie mit den Gewerkschaften vor?

Sinn: Wir brauchen sie, und wir brauchen den Flächentarifvertrag. Aber wir brauchen auch Öffnungsklauseln für diesen Vertrag, damit die Betriebe sich notfalls wehren können. Der Flächentarifvertrag ist im Prinzip eine Kartellvereinbarung, bei der Arbeitslosigkeit eingeplant wird. Die Arbeitslosigkeit ist der Erfolgsbeleg einer Lohnpolitik, die es geschafft hat, mehr herauszuholen als das, was der Markt allein hervorgebracht hätte. Viele Belegschaften wollen sich dem Kartell nicht länger unterwerfen. Sie wollen lieber weniger Geld, aber dafür einen sicheren Arbeitsplatz. Damit kommen sie aber auf der Ebene der Kartellzentrale nicht durch. Deswegen muss man ihnen helfen. Und zum Sozialstaat: Ich stimme Herrn Hüther in seiner Kritik an dessen Überdehnung zu, aber lassen Sie uns doch bitte konkret werden und fragen: Was macht der Sozialstaat falsch?

SZ: Sie haben bestimmt schon eine Antwort parat?

Sinn: Ja. Der Sozialstaat bietet Lohnersatzeinkommen an - insbesondere für weniger qualifizierte Menschen ist das eine relevante Alternative -, und verzerrt damit den Arbeitsmarkt. Damit wird die gesamte Lohnskala von unten her zusammengepresst. Wie die Rippen einer Ziehharmonika werden die Löhne für verschiedene Qualifikationsstufen hochgedrückt, der Effekt verliert sich nach oben, aber unten bis hin zum mittleren Lohnbereich haben wir einen massiven Einfluss auf die Lohnbildung, der sich eben in Arbeitslosigkeit äußert, insbesondere bei den Geringqualifizierten. Deutschland ist Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten.

Hüther: Mag sein, aber immerhin hat Kanzler Schröder Reformen eingeleitet. Die Regierung hat mit den Hartz-Gesetzen versucht, diese Ersatzeinkommen zu beschneiden . . .

Sinn: Das war in der Tat eine historische Leistung. Dennoch reicht das nicht.

Hüther: Ja, aber es ist ein wichtiges Signal. Erstmals ist mit einer Sozialreform versucht worden, die Anreizstruktur umzustellen und deutlich zu machen, dass Arbeitseinkommen immer einen höheren Wert haben müssen als Sozialleistungen. Oder nehmen wir die Minijobs. Das ist systematisch zwar nicht sauber, zugegeben, aber es zeigt, dass wir die Lohnskala nach unten hin etwas öffnen können. Erkennen Sie doch einmal Fortschritte an!

Sinn: Das tue ich. Minijobs und Ich-AGs sind vernünftig. Doch wird der Vorteil wieder zunichte gemacht, indem Leuten, die hiervon Gebrauch machen, das Arbeitslosengeld II gestrichen wird.

Hüther: Entschuldigung, Herr Sinn, Sie argumentieren für mein Gefühl zu rigide. So wie Sie zum Beispiel das Tarifverhandlungssystem beschreiben, das ist doch, als ob Sie über die verschüttete Milch von gestern sprechen. Darüber ist die Realität längst weggegangen. Ich bin ja nun kein Anwalt der Gewerkschaften, weiß Gott nicht, aber ich erkenne an, dass etwas in Gang gekommen ist und möchte darauf aufbauen. Wir haben die Öffnungsklauseln, die Sie fordern, längst in vielen Tarifverträgen; nehmen Sie nur die Chemieindustrie. Wir sind im Augenblick dabei, das auch in der Metall- und Elektroindustrie zu lernen. Es geht um betriebliche Neujustierung des Gleichgewichts zwischen Flächentarifvertrag und betrieblicher Ebene, dies ist nun mal ein schwieriger Lernprozess. Und wie alle Lernprozesse braucht das seine Zeit.

Sinn: Das sind Randerscheinungen; es passiert viel zu wenig.

Hüther: Ich weiß, das ist nicht die heile Welt, aber es geht voran. Schneller wäre zweifellos besser, und Rückschläge können wir uns tatsächlich nicht leisten.

Sinn: Der Hinweis auf bestehende betriebliche Bündnisse sticht nicht. Es gibt sie, ja, aber sie müssen nach wie vor von oben abgesegnet werden. Es handelt sich also immer noch um Bündnisse zwischen dem Arbeitgeberverband und den Gewerkschaften. Und damit bleibt das Problem, dass die Konkurrenten dieser Betriebe, die in den Verbänden organisiert sind, ein Mitspracherecht haben. Nehmen Sie das Beispiel des damals von der Pleite bedrohten Baukonzerns Holzmann, da wollten die Arbeitnehmer eine Lohnsenkung, um den Konkurs zu verhindern. Der erste, der dagegen war, war der Arbeitgeberverband. Die Konkurrenten fanden, dass Philip Holzmann auf dem Markt entbehrlich war.

SZ: Wie würde, Herr Sinn, nach Ihrem Modell eine echte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt aussehen?

Sinn: Echte Konkurrenz würde verlangen, dass ein Betrieb, wenn die Belegschaft das möchte, zu niedrigeren Löhnen arbeiten darf, um sich zu retten, auch wenn die Konkurrenten, die im Arbeitgeberverband und in der Gewerkschaft organisiert sind, das nicht mögen. Es muss also das Recht geben, gegen den erklärten Willen der Gewerkschaft betriebliche Vereinbarungen zu treffen.

Hüther: Aber das haben wir doch längst! Nehmen Sie die OT-Strukturen in der Metall- und Elektroindustrie. Da haben sich als Reaktion auf die verheerende Lohnrunde von 1995 Arbeitgeberverbände ¸¸ohne Tarifbindung" gebildet. Über diese Alternative ist Druck zustande gekommen, der den Wandel der Tariflandschaft miterklärt. Rechtlich können wir diesen Wandel zur betrieblichen Öffnung durch eine Neuformulierung des Günstigkeitsprinzips absichern. Diese Drohkulisse muss wirksam werden, um die Öffnung zu beschleunigen.

Sinn: Das einfachste wäre doch, der Gesetzgeber würde eine gesetzliche Pflicht für Öffnungsklauseln definieren, die in den Tarifverträgen berücksichtigt werden müsste, die also der Belegschaft dann die Möglichkeit gibt, vom Tarifvertrag auch nach unten abzuweichen, wenn, sagen wir mal, zwei Drittel der Belegschaft das wollen. Das wäre doch eine klare Regel!

Hüther: Unser Betriebsverfassungsgesetz hat eine gewisse Logik, und ob man wirklich in jedem Zusammenhang gut daran tut, den Betriebsrat in diese Funktion als dauerhaften Verhandlungspartner zu bringen, ist noch sehr die Frage.

SZ: Meine Herren, Sie streiten nicht nur um Positionen, Sie streiten auch um Worte - beispielsweise um das von der ¸¸Basar-Ökonomie", das Professor Sinn geprägt hat. Worum geht es?

Sinn: Damit meine ich, dass die Fertigungstiefe der deutschen Industrie abnimmt. Auch in unseren Exportgütern sind immer mehr Vorleistungen enthalten, die im Ausland gefertigt und von dort importiert wurden. Pro Stück wird immer weniger Wertschöpfung in Deutschland erzeugt - das nenne ich¸¸Basar-Effekt".

SZ: Ist das nicht eine zwangsläufige Folge der Globalisierung, also der internationalen Vernetzung der Wirtschaft?

Sinn: Ja, im Grunde schon. Aber was grundsätzlich richtig ist, ist doch im Konkreten übertrieben, wie die wachsende Arbeitslosigkeit zeigt. Für das, was wegbricht, wird anderswo kein Ersatz geschaffen. Schuld sind die extrem hohen und nicht mehr wettbewerbsgerechten Löhne. Die hohen Löhne machen zu viel arbeitsintensive Tätigkeiten kaputt. Kapital und Arbeit wandern in die kapitalintensiven Exportsektoren, wo sie noch am ehesten mit den Löhnen zurechtkommen. Es gibt einen pathologischen Boom bei der Wertschöpfung im Export. Zugleich führt der Basar-Effekt dazu, dass pro Einheit Wertschöpfung im Export immer mehr Masse durch unser Land geschleust wird. Beides ist pathologisch übertrieben, eine hyperaktive Schilddrüse sozusagen.

Hüther: Pathologisch heißt doch krankhaft. Ich warne davor, solche Vokabeln zu verwenden im Zusammenhang mit Deutschlands überaus erfolgreicher Exportwirtschaft. Das ist genauso fehlleitend wie das unkontrollierte Jubeln mit dem Begriff des Exportweltmeisters. Unter dem Strich steht, dass die deutsche Wirtschaft sich erfolgreich in die internationale Arbeitsteilung eingeklinkt hat.

Sinn: Die Außenhandelslehre ist in diesem Punkt glasklar. Sie sollten lieber vor der Hochlohnstrategie warnen. Durch die Hochlohnstrategie entwickelt sich die Wertschöpfung im Export zu schnell, und die Fertigungstiefe rutscht auch zu schnell runter, sodass der Multiplikatoreffekt auf die Wertschöpfung, der einhergeht mit der Abnahme der Fertigungstiefe und der Vergrößerung des mengenmäßigen Volumens, das mit dieser Wertschöpfung verbunden ist, eben auch zu groß ist. Das sind zwei pathologische Effekte. Die führen in der Summe zu einem Exportboom, der mit immer mehr Arbeitslosigkeit und einer wirtschaftlichen Stagnation einhergeht. Wir haben hier ein Problem, und kein kleines.

SZ: Herr Hüther, Ihnen passt die ganze Aufregung um das Thema Basar-Ökonomie nicht?

Hüther: Es ist ja außerordentlich verdienstvoll, dass eine Diskussion in Gang kommt, in der man auch einen Begriff wie Basar-Ökonomie in die Öffentlichkeit bringt. Ich nehme hier auch wahr, Herr Sinn, dass sich bei Ihnen die Bewertung des Phänomens, das Sie Basar-Ökonomie nennen, über die Zeit etwas gewandelt hat . . .

Sinn: Nein, das muss ich bestreiten. Ich habe immer gesagt und geschrieben, dass das Phänomen an sich auch eine gesunde Außenhandelsentwicklung kennzeichnet, dass es aber wegen der hohen Löhne in Deutschland übertrieben ist. Leider hatten viele, die sich hier äußerten, keine Zeit zum Lesen. Ich kann nichts dafür, wenn in der Öffentlichkeit eine verkürzte Wahrnehmung des Basar-Effekts herrscht.

Hüther: Man ist auch dafür verantwortlich, was man in die Presse bringt. Jedenfalls: Der Begriff prägt die Diskussion, aber er trifft nicht. Basar-Ökonomie ist ein bestimmter Zustand, die deutsche Wirtschaft entwickelt sich aber vielfältig. Zudem: Der Begriff Basar-Ökonomie umfasst die Tätigkeiten am Ende der Wertschöpfung, also etwa Vertrieb und Marketing oder Beratung. Tatsächlich führt die Spezialisierung ebenso zur Stärkung humankapitalintensiver Tätigkeiten am Beginn der Wertschöpfung, also etwa Forschung und Entwicklung, Planung und Design. Damit wird klar, dass der Begriff nicht trägt und schon semantisch falsch ist ....

Sinn: Ich bin Ökonom und rede über Tatsachen. Meinetwegen nennen Sie das Phänomen Apfel oder Birne. Der Begriff ist unwichtig. Die Probleme, zu der eine überschießende ¸¸Basar-Ökonomie" führen kann, ergeben sich aus harten ökonomischen Gesetzen. Ich kann die Ökonomen in Deutschland nur bitten, sich intensiver mit der Außenhandels-Theorie auseinander zu setzen, damit sie richtig verstehen, was abläuft.

Hüther: Nochmals: Wir müssen unsere Begriffe mit Bedacht wählen, weil wir sonst unnötig Verwirrung stiften und die Tatsachen gerade nicht transportieren. Zur Sache: Alle Volkswirtschaften haben mit der Globalisierung zu kämpfen - und die deutsche macht das sogar im Vergleich recht gut. Nehmen Sie Frankreich, das sich wesentlich weniger erfolgreich und in geringerem Maße Vorleistungen aus dem Ausland bezieht als Deutschland und jetzt entsprechend große Probleme hat. Im vergangenen Jahr hat Frankreich keinen Wachstumsimpuls aus dem Export ziehen können. Dies zeigt, dass es ohne starke industrielle Basis nicht geht, und die wird bei uns gerade durch Outsourcing und Offshoring gesichert. Oder nehmen Sie die Auto- und Autozuliefererbranche in Deutschland. Hier sehen wir die Beschäftigung auf einem Höchststand. Kurz: Der deutsche Exporterfolg ist nicht pathologisch, sondern ist ein Beleg dafür, dass das Land sich der internationalen Arbeitsteilung in besonders erfolgreicher Weise stellt.

Sinn: Stimmen Sie zu, dass hohe Löhne die Wertschöpfung im Export treiben können?

Hüther: Kurzfristig, ja. Langfristig, nach allen Anpassungen, würden hohe Löhne letztlich auch die Exportwirtschaft vernichten.

Sinn: Nein, dauerhaft. Weil Sie die arbeitsintensiven Faktoren kaputtmachen und die dort gebundenen Produktionsfaktoren, die Menschen und das Kapital, in die Exportsektoren treiben.

Hüther: Dass es Verlagerung gibt, dass es Strukturwandel gibt, dass Branchen verlieren, das ist doch klar. Die Frage ist nur, ob wir diesen Prozess aktiv steuern. Anders gewendet: Unsere Exportleistung ist auch bei stärkerer Binnenwirtschaft möglich. Und andere Länder, die ebenfalls Hochlohnstrategien fahren, weisen keinen vergleichbaren Exporterfolg auf. Ihre Theorie scheint eine sehr spezielle für Deutschland zu sein. Deshalb meine Position: Die Frage ist, ob wir diesen Prozess aktiv steuern. Es gibt keinen Hinweis darauf, ob das, was Sie Basar-Ökonomie nennen, übertrieben ist oder nicht.

Sinn: Doch, die Lage auf dem Arbeitsmarkt - das ist der Beweis! Die Spezialisierung - die wir brauchen, natürlich, um Handelsgewinne durch die Globalisierung zu erzielen - die geht immer über den Arbeitsmarkt. Wenn also am Arbeitsmarkt netto Leute rausfallen in diesem Prozess, dann ist da auch etwas faul - und es fallen netto Leute raus. Im Produzierenden Gewerbe haben wir von 1985 bis 2004 einen Verlust an insgesamt 1,26 Millionen Voll-Arbeitsplätzen zu beklagen, und im ganzen Rest der Wirtschaft sind netto keine neuen Arbeitsplätze entstanden. Das ist der Beleg dafür, dass wir mit der Globalisierung derzeit nicht gut zurechtkommen. Wir kommen nicht zurecht, weil es zu hohe Lohnkosten gibt, die nicht auf die neuen Knappheitsverhältnisse reagieren. Der Strukturwandel funktioniert falsch.

Hüther: Ich bestreite ja gar nicht, dass wir nachhaltige Probleme dabei haben, die Binnenwirtschaft auf die Globalisierung einzustellen. Das heißt, wir brauchen Reformen am Arbeitsmarkt, bei der Lohnpolitik, im Bereich der sozialen Sicherung - kurz, es steht das wirtschaftspolitische Handeln insgesamt im Blick. Dabei steht der Staat zusammen mit der Lohnpolitik in der Verantwortung.

SZ: So weit sind Sie beide doch gar nicht auseinander?

Hüther: Ja, wir kommen letztlich zu ähnlichen wirtschaftspolitischen Überlegungen. Ich wehre mich nur gegen eindimensionale Antworten, denn die Verantwortung ist ja auch nicht einseitig zuzuordnen, sondern hat mehrere Akteure. Mir ist es wichtig, die richtigen Entwicklungen zu würdigen, damit dort angesetzt werden kann. Die Lohnpolitik hat eine Führungsrolle, ist aber nicht alles.

Sinn: Vielleicht nicht alles, aber doch von zentraler Bedeutung. Die Löhne sind die wichtigsten Preise in der Volkswirtschaft. Werden sie willkürlich durch marktfremde Kräfte strukturiert, geht alles schief. Wir müssen die Politiker aufrütteln. Dieses Land hat noch immer ein gewaltiges Erkenntnisproblem.

Das Interview führte Marc Beise