Stolze Wachstumswerte in Deutschland

Interview mit Hans-Werner Sinn, Neue Zürcher Zeitung, 08.07.2007, S. 30-31

Für den Merkel-Berater Hans-Werner Sinn sind die deutschen Firmen wettbewerbsfähig, die deutschen Arbeiter nicht

NZZ am Sonntag: Vor kurzem lag die deutsche Wirtschaft noch auf der «Krankenstation», heute zeigt sie sich überraschend stark - was ist geschehen?
Hans-Werner Sinn: Bitte nicht übertreiben. Deutschland partizipiert am konjunkturellen Aufschwung in der Welt. Die strukturellen Probleme des Landes sind völlig ungelöst. Sie bestehen unabhängig von Flaute und Boom; die sich im fünfjährigen Rhythmus abwechseln. Die Weltwirtschaft wächst nun schon im vierten Jahr mit 5%: So etwas haben wir seit dem Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1950 noch nie erlebt. Wir erwarten sogar, dass der Boom 2008 erhalten bleibt.

Kann Deutschland im nächsten Jahr weiter mitziehen?
Ja, ich denke schon. Die Exportkonjunktur läuft prächtig, der weltweite Aufschwung wurde von der Investitionsgüternachfrage ausgelöst, und da ist Deutschland stark. Die Franzosen, die sich auf Konsumgüter spezialisiert haben, partizipieren weniger.

Wie lautet Ihre Prognose für die deutsche Wirtschaft 2007 und 2008?
Ich erwarte 2,6 und 2,5 Wirtschaftswachstum - also stolze Werte, die knapp unter dem Durchschnitt der alten EU-Länder liegen.

Mit ihren Exporterfolgen zeigt sich die deutsche Wirtschaft doch recht wettbewerbsfähig.
Die deutschen Firmen sind wettbewerbsfähig, die deutschen Industriearbeiter sind es nicht. Die Industriebeschäftigung ist seit vielen Jahren im freien Fall begriffen. Selbst im letzten Jahr, als alles boomte, ging sie zurück.

Wird sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt weiter entspannen?
Ja, wir rechnen 2007 im Durchschnitt mit 3,8 Mio. und 2008 mit 3,5 Mio. Arbeitslosen, im vergangenen Jahr waren es noch 4,5 Mio. Aber die Zahlen sind immer noch viel zu hoch, und die gering Qualifizierten und Langzeitarbeitslosen partizipieren nicht am Aufschwung. Oft entstehen nur Minijobs und Teilzeitstellen. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist derzeit noch um etwa eine Million niedriger als am Ende des letzten Booms im Jahr 2001.

Haben die Lockerung der Tarifstrukturen und der Lohnverzicht die Lage nicht verbessert?
Deutschlands Arbeitnehmer haben ihre Wettbewerbsfähigkeit in der Tat durch die Lohnzurückhaltung steigern können. Trotzdem haben wir immer noch die dritthöchsten Lohnkosten für Industriearbeiter in der Welt - sogar deutlich über Schweizer Niveau. Relativ zur gesamtwirtschaftlichen Produktivität haben wir sogar die höchsten Lohnkosten auf der Welt. Besonders die hohen Industriearbeiterlöhne haben unglaublich viele Jobs kaputtgemacht und unwiederbringlich ins Ausland vertrieben. Mir graut, wenn ich ans Ende des Booms denke.

Wo werden Arbeitsplätze geschaffen?
In der Dienstleistungsbranche, im Nachrichtenwesen, in der Kulturwirtschaft. Aber in der Industrieproduktion - dem früheren Kern der deutschen Wirtschaft - werden die Jobs nicht geschaffen. In den Fabriken arbeiten Maschinen und Roboter - oder Polen und Chinesen. Ein Teil der Gewinne entsteht dadurch, dass man frühzeitig ausgelagert hat und jetzt die Zwischenprodukte billig einkauft, weiterverarbeitet und das deutsche Markenschild draufklebt. Eine der wichtigsten Komponenten der Wertschöpfung beim Porsche Cayenne ist das Markenschild «Made in Germany». Das erzeugt den Gewinnaufschlag.

Ist das nicht ein normaler Transformationsprozess zur Dienstleistungsgesellschaft, den die Schweiz nur früher durchlaufen hat?
Zum Teil schon, aber ich glaube, der Prozess ist übertrieben, weil die Löhne zu hoch und zu starr sind und nicht auf die Massenarbeitslosigkeit reagieren. Deutschland kann auch nicht Ersatz im Bereich der Finanzdienstleistungen finden, wie die Schweiz oder England. Deutschlands Wettbewerbsvorteile liegen im Bereich der Industrie, das hat das Land gross gemacht. Man hat in Frankfurt vergeblich versucht, London bei den Finanzdienstleistungen den Rang abzulaufen.

Wo liegen denn die grössten Strukturprobleme, die noch nicht gelöst sind?
Ausschliesslich auf dem Arbeitsmarkt. Auf den Produktmärkten haben wir viel Wettbewerb, anders als andere Länder - wie die Schweiz. Nur den Postdienstleistungsmarkt müssen wir noch liberalisieren. Aber der Arbeitsmarkt leidet unter einer fundamentalen Verkrustung, und die ist jetzt noch verschärft worden. Zwar führt das Bundeskabinett keine flächendeckenden Mindestlöhne ein. Beschlossen wurde aber, dass in vielen Branchen künftig die Tariflöhne verbindlich sein werden, die ein Teil der Unternehmen mit den Gewerkschaften ausgehandelt hat. Damit wird die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt weiter ausgehebelt.

Was ist Ihr Modell, wie man die Schlechtqualifizierten auf den Arbeitsmarkt bringt und dort auch halten kann?
In der Zeit der Globalisierung und der wachsenden internationalen Niedriglohnkonkurrenz gibt es eine wachsende Bevölkerungsgruppe, die mit ihrer Hände Arbeit kein sozial adäquates Lohneinkommen mehr erwirtschaften kann. Die alte Strategie des Sozialstaates war, ihnen ein Einkommen zur Verfügung zu stellen, wenn sie nicht arbeiten. Das hat nicht funktioniert, denn keiner arbeitet für weniger als die staatliche Hilfe. Die Alternative wäre, ein System zu schaffen, wo jeder arbeitet, zu welchem Lohn auch immer Beschäftigung findet, und wo dieser Lohn dann durch staatliche Zuschüsse ergänzt wird, so dass in der Summe ein sozial akzeptables Gesamteinkommen herauskommt.

Der Nobelpreisträger Edmund Phelbs sagt, Deutschland habe einfach zu wenig Innovationskraft. Stimmen Sie zu?
Nein, Deutschland ist bei der Patentstatistik noch immer die Nummer 1 in Europa, die Nummer 3 in der Welt. Wir haben 450 Weltmarktführer. Wenn es an Dynamik fehlt, dann deswegen, weil die Entwicklung von der Garage im Hinterhof zum Weltkonzern hierzulande wegen eines schlecht organisierten Marktes für Eigenkapital behindert wird. Wir brauchen einen seriösen Markt für Private-Equity-Gesellschaften.

Der Reformzwang in Deutschland scheint gebremst, obwohl der Aufschwung ein günstiger Zeitpunkt für Veränderungen wäre?
Ja, wir machen nun das Anti-Schröder-Programm. Schröder hat ja nun mit der Streichung der Arbeitslosenhilfe einer Million Menschen im Osten und einer Million Menschen im Westen die Lohnersatzeinkommen reduziert und damit die Lohnansprüche an die Marktwirtschaft verringert. Das war ein Modell zur Mobilisierung und zur Schaffung zusätzlicher Jobs. Mit dem Kompromiss zum Mindestlohn erhöhen wir die Lohnansprüche im kritischen Bereich, und das führt zu einer Vernichtung von Jobs. Gegensätzlicher könnte die Politik nicht sein.

Erwarten Sie in dieser Legislaturperiode von der grossen Koalition noch mehr als kleine Reformschrittchen?
Von dieser Koalition habe ich keine grossen Reformen erwartet, weil sich die SPD wegen der Gründung der Linkspartei nicht weiter in die Schrödersche Richtung bewegen kann. Dann zerbricht sie. Woran sich die Koalition messen lassen muss, ist, ob sie den Haushalt konsolidiert. Das hat sie bravourös gemeistert, zu meiner Überraschung.
Interview: Susanne Ziegert und Fritz Pfiffner.