„Globalisierung ist gut“

Interview mit Hans-Werner Sinn, Rheinische Post, 27.09.2008, Nr. 227, S. M8

Ökonomie-Professor Hans-Werner Sinn sieht den Sozialstaat durch die Globalisierung herausgefordert. Er belohne Kinderlosigkeit und Arbeitsmüdigkeit. Sinn fordert niedrige Löhne für Ungelernte und eine Pflicht zur Riester-Rente.

Die Soziale Marktwirtschaft ist 60 Jahre alt. Ein Grund zum Feiern?
Gewiss. Die Soziale Marktwirtschaft hat den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg einen außergewöhnlichen Aufschwung und anhaltenden Wohlstand beschert.

Wie sozial ist die Marktwirtschaft?
Ludwig Erhard ging davon aus, dass die Marktwirtschaft an sich sozial ist und daher keiner ergänzenden Sozialpolitik bedarf. Diese Ansicht teile ich nicht. Die Marktwirtschaft ist effizient, weil sie aus den knappen Ressourcen das Meiste macht. Aber sie ist nicht gerecht. Wenn man sie laufen lässt, zahlt sie nicht allen Menschen Löhne, von denen sie auskömmlich leben können. Daher brauchen wir ergänzende Sozialpolitik, wie es auch Erhards Staatssekretär Müller-Armack formuliert hat.

Bedroht die Globalisierung die Soziale Marktwirtschaft?
Die Globalisierung an sich ist gut. Sie erhöht den Wohlstand in allen Ländern. Aber nicht alle Menschen partizipieren daran. Die Arbeitskräfte in Deutschland stehen nun in Konkurrenz zu Hunderten von Millionen Chinesen, Indern und Menschen aus anderen Schwellenländern. Der Schub, den die Globalisierung seit dem Fall des Eisernen Vorhangs erfuhr, ist die bislang größte Herausforderung für die Soziale Marktwirtschaft.

Sie haben Deutschland eine „Basar- ökonomie" genannt...
Das gilt auch weiter. Die Firmen machen tolle Gewinne, indem sie die Fertigungstiefe ihrer Produktion verringern. Deutschland spezialisiert sich immer mehr auf die Endstufen der Exportindustrien und verdient damit sein Geld. Bis auf das letzte Jahr fiel dabei allerdings die Industriebeschäftigung.

Wer sind Verlierer und Gewinner der Globalisierung?
Die Vermögensbesitzer sind die Gewinner. Ihr Kapital findet weltweit neue attraktive Anlagemöglichkeiten. Auch gut ausgebildete Arbeitnehmer profitieren. Verlierer sind die nicht ausreichend ausgebildeten.

Was sollte der Staat tun?
Das Schlechteste, was der Staat den Globalisierungsverlierern bieten kann, sind Mindestlöhne. Deutschland hat schon Mindestlöhne in Form seines Sozialsystems, das vielfach Lohnansprüche schafft, zu denen keine Jobs gibt. Viel besser ist es, wenn der Staat den Verlierern bei der Arbeit Zuschüsse zahlt, so dass sie ihre Einkommen halten können, ohne ihre Stellen zu gefährden.

Ist Deutschland auf gutem Weg?
Durch die Agenda 2010 hat sich einiges geändert. Die Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I verkürzt. Im Rahmen von Hartz IV wurde ein Lohnzuschuss-System eingerührt. Das hat am Arbeitsmarkt Wunder bewirkt. Wir haben heute wegen der Agenda allein in Westdeutschland 1,1 Millionen Stellen mehr, als man es ansonsten für das jetzige Ende der Hochkonjunktur hätte erwarten können.

In welche Richtung müssen wir weiter
gehen? Sinn In Deutschland gibt es bereits 1,3 Millionen „Aufstocker". Das sind Menschen, die Arbeit haben, aber davon nicht leben können und ergänzend Hartz IV-Leistungen erhalten. Es könnten noch mehr sein, wenn man die Zuverdienst-Möglichkeiten ausweiten würde. So, und nur so lässt sich das Armutsrisiko vermindern, denn nur so gibt es Jobs.

Konkret heißt das?
Heute können Arbeitslose maximal 100 Euro dazuverdienen, ohne dass der Staat ihnen das Arbeitslosengeld II (Alg II) kürzt. Das Ifo-Institut schlägt vor, die Menschen 500 Euro zusätzlich zum Arbeitslosengeld verdienen zu lassen.

Damit würden viele Geld erhalten, die sich jetzt so durchschlagen. Müssten wir das Niveau von Alg II senken?
Nicht für die, die arbeiten. Für die würde das Niveau deutlich erhöht. Für diejenigen, die keine Arbeit finden, würden wir kommunale Zeitarbeitstellen anbieten, die zu einem Satz in Höhe des heutigen Hartz-IV-Geldes bezahlt werden.

Wie verhindert man, dass Betriebe wegen des Zuschusses Löhne senken?
Das soll nicht verhindert werden, sondern ist erforderlich, damit mehr Stellen geschaffen werden. Verhindert wird aber, dass dadurch der Lebensstandard fällt, denn es gibt ja die Zuschüsse. Ohne die Zuschüsse hat man nur die Wahl zwischen einer Fortsetzung der Massenarbeitslosigkeit bei gleicher Lohnstruktur oder einer Beendigung der Arbeitslosigkeit um den Preis einer Verarmung weiter Bevölkerungskreise.

Ist Vollbeschäftigung in Deutschland möglich?
Ja, natürlich, wenn man die Reformen macht. Von Vollbeschäftigung würde ich in Deutschland sprechen, wenn wir eine halbe Million Arbeitslose hätten. Das ist zu schaffen. 1970 hatten wir schließlich auch nur 150000 Arbeitslose.

Zum Kern des deutschen Sozialstaats gehört die gesetzliche Rentenversicherung. Wie bedroht ist sie?
Ihr Problem: Sie ist eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit. Früher mussten Menschen Kinder bekommen, um ihre Altersvorsorge zu sichern. Heute braucht man für die eigene Rente keine Kinder mehr. Es reicht, wenn andere Leute Kinder haben.

Wann kommt hier die Krise?
Wenn die Babyboomer, die um das Jahr 1965 herum Geborenen, im Ruhestand sind, so um das Jahr 2035, ist das Missverhältnis zwischen Arbeitnehmern und Rentnern am größten. Dann erlebt die Rentenversicherung ihre größte Belastungsprobe.

Tut die deutsche Politik genug, um die vorhersehbare Krise in der Rentenversicherung zu vermeiden?
Durch die Rente mit 67 und Änderungen der Rentenformel haben wir für künftige Rentner das Niveau deutlich gesenkt. Um Altersarmut zu verhindern, sollten wir die Riester-Rente für Kinderlose zur Pflicht machen.

Wie könnte das aussehen?
Jeder müsste verpflichtet werden, acht Prozent seines Bruttoeinkommens in die private Altersvorsorge zu stecken. Mit jedem Kind, das eine Familie bekommt, sollte der Pflichtanteil sinken, und bereits angesparte Guthaben würden frei. Damit das die Eltern im Alter nicht benachteiligt, sollte die gesetzliche Rentenkasse ihnen eine „Kinderrente" zahlen, die den Ausfall der Riester-Rente ausgleicht.

Ihr Ausblick für das Überleben der Sozialen Marktwirtschaft?
Deutschland war bei der Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft Vorreiter. Man kann auch sagen, unser Land war das Versuchskaninchen der Geschichte. Die Verhaltensumlenkung, die ein falscher Sozialstaat erzeugt, hat in Deutschland ein besonders großes Ausmaß angenommen. Wir sind OECD-Weltmeister bei der Kinderlosigkeit pro 1000 Einwohner und haben weltweit bei weitem die höchste Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten. Ich denke, wir sollten aus den Fehlern lernen und nun zum Vorreiter bei der Erschaffung eines besseren Sozialstaates werden, der weder Anreize setzt, keine Kinder mehr zu haben, noch, der Arbeit fern zu bleiben. Die Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch.

Welche Auswirkung hat die Finanzkrise auf die deutsche Wirtschaft?
Es hat in der Nachkriegszeit in der Welt noch nie eine so schwere Finanzkrise gegeben wie derzeit in Amerika. Deutschland ist bei allem ein Hort der relativen Stabilität geblieben, auch dank der mutigen Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre. Wir sind für die kommende Krise besser gewappnet.