Renten-Kollaps in zehn Jahren

Interview mit Hans-Werner Sinn, Oldenburgische Volkszeitung, 04.02.2005, 6

Wirtschaftsprofessor Sinn fordert Riester-Pflicht für Kinderlose

Oldenburg - Das Ende der Job-Krise ist nicht abzusehen, da bahnt sich bereits das nächste Strukturproblem an: die Alterung der Gesellschaft. Spätestens in zehn Jahren, so der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Professor Hans-Werner Sinn, hat das Rentenproblem Deutschland gepackt. Im Gespräch mit Uwe Röndigs forderte Sinn am Rande eines Vortrags der Wirtschaftlichen Vereinigung in Oldenburg nachhaltige Reformen.

Frage: Herr Sinn, fünf Millionen Arbeitslose im Januar -ist damit endlich die Talsohle auf dem Arbeitsmarkt durchschritten?

Sinn: Eine Trendwende ist noch nicht sichtbar. Trotz der boomenden Weltwirtschaft nimmt die Arbeitslosigkeit zu. Der Export hilft der Wirtschaft, aber der Arbeitsmarkt profitiert wenig. Das Problem sind die ie Investitionen. Sie sind im vergangenen Jahr geschrumpft, obwohl sie bei einem solchen Boom eigentlich um acht bis zwölf Prozent hätten wachsen müssen. Durch technische Ma§nahmen sind seit 2003 240 000 Menschen aus der Arbeitslosenstatistik herausgestrichen worden. Jetzt kamen ommen 2350 000 arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger dazu, vielleicht auch mehr. Wir haben ohne die statistischen Effekte tatsächlich die Fünf-Millionen-Latte gerissen. Im Grunde haben wir noch viel mehr Arbeitslose. Wir liegen deutlich über sieben Millionen. Wir haben ein riesiges Problem in Deutschland.

Frage: Ist Hartz IV für Sie der Anfang der Lösung?

Sinn: Hartz IV wird Bewegung bringen, weil viele, die bisher so leidlich mit ihrer Arbeitslosenhilfe eingerichtet hatten, jetzt mit dem Arbeitslosengeld II nicht mehr zurechtkommen. Diese Menschen müssen sich bewegen und Jobs annehmen, die sie vorher abgelehnt haben. Der Ingenieur wird zum Facharbeiter, der Facharbeiter zum Hilfsarbeiter. Ich erwarte, dass es eine Verdrängungskasskade gibt, wo unten viele gering Qualifizierte aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt werden. Die Reform bringt zwar Bewegung, aber noch keine neuen Stellen. Für mehr Stellen muss mehr passieren. Dafür brauchen wir auch Reformen Hartz V oder VI.

Frage: Was bedeutet das?

Sinn: Hartz V ist für mich die Einführung der aktivierenden Sozialhilfe. Das hieße konkret: Man verbessert die Hinzuverdienstmöglichkeiten für das Arbeitslosengeld II. Die sind jetzt außerordentlich schlecht. Wenn man etwas hinzuverdient, wird einem fast das ganze Geld weggenommen. Zum Ausgleich muss man denen, die nicht arbeiten, etwas weniger geben, so dass das für den Staat kein Geld kostet.

Frage: Und Hartz VI?

Sinn: Hartz VI heißt: Man muss an das Tarifrecht heran. Man muss den Tarifvertrag durchlöchern. Es sollte auf betrieblicher Ebene möglich sein, vom Tarifvertrag nach unten abzuweichen, wenn die Belegschaft das will, um eine Standortverlagerung zu verhindern. Die Macht der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände muss abnehmen, und im Gegenzug muss es eine höhere betriebliche Autonomie geben.

Frage: Bringt langfristig die demografische Entwicklung eine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt, wie einige Prognosen vorhersagen?

Sinn: Nein. Wenn die arbeitsfähige Bevölkerung wegstirbt, haben wir ein Problem mit der Wirtschaftsentwicklung. Ich glaube nicht, dass wir eine geringere Arbeitslosenquote bekommen. Es sterben nicht nur die Arbeitnehmer weg, sondern auch die Arbeitgeber. Wenn Deutschland immer älter wird, droht die Dynamik bei den Unternehmensgründungen zu erlöschen. Unternehmensgründer sind im Durchschnitt 35 Jahre alt.

Frage: Was soll Deutschland gegen die Vergreisung tun?

Sinn: Wir haben die niedrigste Geburtenzahl pro 1000 Einwohnern unter allen entwickelten Ländern. Das muss sich ändern. Man muss den Frauen die Berufstätigkeit erleichtern. Wir brauchen die Vorschule für Kinder ab drei Jahren. Wir brauchen außerdem die Ganztagsschule. Wir müssen aber auch unser Rentensystem so umbauen, dass die Renten und das Riester-Sparen nach der Kinderzahl differenziert werden.

Frage: Wie soll das konkret funktionieren?

Sinn: Für einen Menschen, der ins Erwerbsleben eintritt, sollte Riester-Sparen zur Pflicht werden. Wenn er dann Kinder kriegt, würde man ihm die Ersparnis nach und nach erlassen. Wenn das erste Kind geboren wird, wird ein Drittel der Ersparnis freigegeben, so dass man das Geld hat, wenn man es braucht. Und auch ein Drittel der laufenden Pflichtersparnis wird reduziert. Beim zweiten Kind fällt das zweite Drittel, beim dritten Kind das dritte Drittel. Wer also drei Kinder hat, muss dann nicht mehr sparen. Weil Familien aber damit auch später weniger Rente haben, muss man das ausgleichen durch eine Kinder-Rente. Darunter stelle ich mir eine umlagefinanzierte Rente vor, eine Art Bürgerrente, die von allen später Erwerbstätigen bezahlt wird, um den Eltern die Rente aufzustocken.

Frage: Das wäre also ein Zusatzinstrument...

Sinn: Das ist richtig. Die gesetzliche Rente wird zukünftig nicht mehr reichen, sondern dahinsiechen. Das bedeutet, dass das Rentenniveau, das heute 48 Prozent vom Brutto beträgt, auf 24 Prozent runtergeht. Wenn man die ich über Altersgrenzen und Frauenbeschäftigung erhöht, herumreformiere kommt man allenfalls auf 32 Prozent -und das ist Sozialhilfe-Niveau. Das reicht nicht aus. Deswegen brauchen wir die modifizierte Riester- und die Kinderrente.

Frage: Und das soll politisch durchsetzbar sein?

Sinn: Wir sind noch nicht so weit, dass wir die Schwere der Probleme erkannt haben. Wir wählen immer die, die das beste Valium verteilen. Die Rentenprobleme werden Deutschland ab 2015 oder 2020 voll erfassen, wenn die Baby-Boomer 70 sind.