„Es gibt keinen Grund, in Panik zu geraten“

Interview mit Hans-Werner Sinn, VDI Nachrichten, 19.12.2008, Nr. 51/52, S. 5

Deutschland ist in die Rezession gerutscht. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass im kommenden Jahr die Wirtschaftsleistung schrumpft, die Arbeitslosenzahlen steigen. Was sollte die Regierung dagegen tun? Wann kommt die Wirtschaft wieder auf die Beine? Fragen an Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts.

VDI nachrichten: Herr Professor Sinn, die jüngsten Prognosen der Ökonomen dämpfen die Vorfreude aufs neue Jahr. Wie schlimm wird es wirklich kommen?

Sinn: Wir befinden uns bereits in einer Rezession. Und die wird sich im nächsten Jahr verfestigen und dann auch auf den Arbeitsmarkt durchschlagen. Die volle Wucht der Rezession wird die Bevölkerung aber vermutlich erst ab der zweiten Jahreshälfte 2009 spüren.

Das Ifo-Institut prognostiziert für das kommende Jahr einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von etwa 2 %. Die Zahl der Arbeitslosen dürfte sich von Dezember bis Dezember um etwa eine halbe Million erhöhen.

Dennoch gibt es keinen Grund, in Panik zu geraten. Zwar könnte dies die schwerste Rezession seit 1929 werden, doch ist die Welt mit den Rettungspaketen für die Banken und vielen Konjunkturprogrammen nun viel besser gerüstet als damals.

VDI nachrichten: Wann wird das Wachstum wieder anziehen?

Sinn: Ich sehe das Ende der Schwächephase noch nicht. Die Flaute wird das Jahr 2010 umfassen. Die Arbeitslosigkeit wird auch in dem Jahr noch zunehmen, und vermutlich kommen wir dann wieder über 4 Mio.. Die Agenda 2010, die uns am Arbeitsmarkt, über die Konjunktur hinaus, eine erhebliche Zusatzdynamik gebracht hat, wird uns helfen, mit der Krise etwas besser fertig zu werden. Durch die Lohnzurückhaltung, die mit der Agenda einherging, wurde der Binnensektor gestärkt.

VDI nachrichten: Gibt es nicht auch Indikatoren, die Mut machen? Ich denke an den kräftigen Rückgang der Rohstoffpreise, die derzeit gute Konsumlaune oder den Rückgang der Verbraucherpreise.

Sinn: Der private Konsum ist bislang noch recht stabil. Es sind aber Zweitrundeneffekte aus dem Rückgang der Investitionsgüter- und Exportnachfrage für das zweite Halbjahr 2009 zu erwarten.

VDI nachrichten: Welche Branchen trifft die Rezession besonders hart?

Sinn: Es ist bemerkenswert, dass die Automobilindustrie so früh in Schwierigkeiten geraten ist. Das liegt im Wesentlichen an dem schon seit anderthalb Jahren in den USA zu verzeichnenden Abschwung und an strukturellen Schwächen, die in der Hochkonjunktur überdeckt wurden. Unter der Konjunktur leidet das verarbeitende Gewerbe bereits deutlich – insbesondere die Investitionsgüterindustrie. Der Maschinenbau, dessen Auftragsbücher bis ins nächste Jahr gefüllt waren, leidet unter den vielen Stornierungen bereits erteilter Aufträge.

Der Bau und die Konsumgüterindustrie, die derzeit noch stabil sind, werden sich nicht mehr allzu lange gegen die Flaute stemmen können.

VDI nachrichten: Unternehmen klagen zunehmend über eine restriktive Kreditvergabe der Banken. Steuern wir auf eine Kreditklemme zu?

Sinn: Die Kreditvergabe der Banken wird merklich restriktiver, doch ich zögere, schon jetzt von einer Kreditklemme zu reden. Die jüngste Ifo-Kreditumfrage zeigt, dass bereits 35 % der Unternehmen die Kreditvergabe der Banken als restriktiv empfinden. Bei großen Unternehmen liegt der Prozentsatz bereits bei 40 %.

VDI nachrichten: Gibt es Branchen, die gut durch die Rezession kommen?

Sinn: Wer Hartz-IV-Empfänger oder Rentner beliefert, muss sich keine Sorgen machen. Die Transfereinkommen sind stabil.

VDI nachrichten: Erweist es sich jetzt als Fehler, dass Deutschland seiner Binnenkonjunktur lange wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat?

Sinn: Es wäre in der jetzigen Situation in der Tat besser, unsere Volkswirtschaft hätte einen stärkeren Binnensektor.

In Deutschland ist das Binnenangebot lange vernachlässigt worden. Durch die früher über Jahrzehnte betriebene Hochlohnpolitik wurde es systematisch zerstört. Man hat die arbeitsintensiven Güter und Dienstleistungen, die dort früher produziert wurden, durch Importe ersetzt und die Kräfte des Landes auf die kapital- und wissensintensiven Exportsektoren konzentriert. Dort expandierte die Wertschöpfung im Übermaß, was ich als Basar-Effekt bezeichnet habe. Doch es entstanden im Export viel zu wenig Arbeitsplätze, um den Wegfall der Arbeitsplätze in den Binnensektoren zu kompensieren.

Seit der Regierung Schröder hat eine gewisse Korrektur eingesetzt. Mit der Schaffung eines Niedriglohnsektors hat sich der Binnensektor wieder etwas belebt. Er hat aber noch längst nicht wieder die not- wendige Stärke gewonnen.

VDI nachrichten: Nun wird vor allem von Seiten der Gewerkschaften verlangt, die Löhne deutlich zu erhöhen, um die Binnenwirtschaft über den Konsum zu stärken. Ist das der richtige Weg?

Sinn: Ich kenne das Argument. Es ist ökonomisch nicht haltbar und beruht auf einer Unkenntnis ökonomischer Wirkungsmechanismen. Das Gegenteil ist richtig: Durch unverhältnismäßig hohe Lohnsteigerungen verteuern sich gerade die arbeitsintensiven Binnensektorleistungen. Die Folge: Diese Leistungen werden weniger nachgefragt. Die Deutschen sind sich gegenseitig zu teuer, als dass sie bereit wären einander die Leistungen ab zu kaufen, die sie anzubieten haben.

So sind wir z. B. auch deshalb Tourismus-Weltmeister, weil Deutschland im Laufe der Jahrzehnte zu teuer geworden ist. Früher konnten sich nur die Reichen einen Auslandsaufenthalt leisten. Die Armen mussten in Deutschland Urlaub machen. Heute ist es umgekehrt. Nur die Reichen können sich heute noch einen Urlaub auf Norderney oder in Garmisch leisten. Die Armen müssen stattdessen nach Mallorca.

VDI nachrichten: Die große Konjunkturstütze Deutschlands ist der Export. Die USA sind tief in die Krise gerutscht, die Europäer sind gefolgt. Anfänglich gab es die Hoffnung, dass China, Indien und andere Schwellenländer die negativen Auswirkungen abfedern würden. Warum klappt das nicht?

Sinn: Auch Länder wie China spüren die Konjunkturkrise aufgrund ihrer rückläufigen Exporte in die Industrieländer. Vor allem aber muss man sich deren Gewicht in der Weltwirtschaft vor Augen führen. Die wirtschaftlich wichtigsten Schwellenländer, die BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China, haben gerade 13 % Anteil an der Weltwirtschaft. Zum Vergleich: Die USA kommen auf 25 %, und die Europäische Union auf 31 %.

VDI nachrichten: Wie kommen wir dann aus der Rezession? Ist das mit dem verabschiedeten Konjunkturpaket der Regierung zu schaffen, das etwa 0,5 % des Bruttoinlandsprodukts ausmacht?

Sinn: Das Paket ist ok. Ich kann allerdings nur raten, jetzt nichts zu überstürzen. Da wir mit erheblichem zeitlichen Abstand hinter der US-Konjunktur herhinken, müssen wir uns mit neuen Programmen nicht sonderlich beeilen.

Konjunkturprogramme sind immer nur Strohfeuer. Man muss sich sehr genau überlegen, wann man sie auflegt, denn man hat nicht genug Stroh, um dauerhaft damit zu heizen. Derzeit liegt die Arbeitslosigkeit auf dem tiefsten Stand seit 16 Jahren. Das ist nicht die Situation, in der man ein Konjunkturprogramm macht. Um ein anderes Bild zu verwenden: Man kann nur den Boden des Tals, das wir durchschreiten werden, mit einem Konjunkturprogramm überbrücken. Um das gesamte Tal zu überbrücken fehlt es an Baumaterial. Wir müssen erstmal ein Stück weit ins Tal hinabsteigen, bevor wir eine Brücke zum nächsten Berg bauen können.

VDI nachrichten: Aber können die verantwortlichen Politiker wirklich die Hände in den Schoß legen, wenn die Wirtschaftsprognosen so düster sind?

Sinn: Wir gehen jetzt bergab, sind aber noch ganz oben, direkt unter dem Gipfel. Wir wissen nicht genau wie lange die Rezession dauern wird. Währt sie drei oder vier Jahre, wie beim letzten Mal, dann reicht das staatliche Geld nicht, sie zu überbrücken. Deutschland hat eine implizite Staatsschuld über die Sozialversicherungssysteme von 270% des BIP und eine offene von 65%. Wir müssen sehr vorsichtig sein.

Interview: Dieter Heumann