Sinn vs Sinn: Kommt die Wirtschaftskrise? Ist der Euro noch zu retten? Ein Disput zwischen Walter Sinn von Bain & Company und Hans-Werner Sinn vom ifo Institut

Interview mit Hans-Werner Sinn, Bilanz, Dezember 2014, S. 58-62.

Treffen sich ein Pessi- und ein Optimist ... 

… und BILANZ sitzt mit am Tisch.

Wer Hans-Werner Sinn (66), Präsident des Ifo Instituts, googelt, kann schwermütig werden: „Aussichten verschlechtert!…“, „Ifo-Chef warnt!…“, „Sinn warnt vor Siechtum!…“, lauten die Schlagzeilen. Deutschlands scharfzüngigster Kritiker einer Euro- Rettung verbreitet wenig Zuversicht – mit verdammt guten Argumenten. Sein Gesprächspartner betrachtet die Dinge nicht von der volks-, sondern eher betriebswirtschaftlichen Warte aus: Walter Sinn (49), Statthalter der Unternehmensberatung Bain. BILANZ bat die beiden Ausnahme-Ökonomen, die Herausforderungen für die Wirtschaft zu diskutieren – vom drohenden Konjunktur-Einbruch bis zur unbewältigten Euro-Krise. Wirklich erschrocken war BILANZ-Mann Arno Balzer, als die Herren sich einig waren – als auch dem Optimisten nichts Positives mehr einfiel.

Kommt der Abschwung - und haben wir ihn selbst verschuldet?

Walter Sinn:  „Eine zunehmende Unsicherheit ist zu spüren, nicht zuletzt als Folge geopolitischer Risiken. Das dämpft unsere Konjunktur.“
 „Wir müssen über den Tellerrand Deutschlands hinausschauen, nach Europa und in die Welt. Die Lage in Euroland ist immer noch labil, die Euro-Krise ist nicht bewältigt. Dazu kommen unkalkulierbare Risiken in anderen Regionen, von der Ukraine bis nach Syrien. Daraus können sich am Ende Schocks ergeben, die ein fragiles System ins Wanken bringen. Diese Gemengelage bremst natürlich die Investitionsbereitschaft hierzulande.“

Hans-Werner Sinn: „Wir erleben Symptome eines Konjunkturabschwungs. Die deutsche Industrie muss sich auf eine Konjunkturdelle einstellen, und das tut sie auch.“
„Allerdings gibt es auch etliche hausgemachte Probleme. Wir verfrühstücken gerade den Gewinn an Wettbewerbsfähigkeit, den wir durch die vor zehn Jahren gestarteten Reformen (Agenda 2010, Anm. d. Red.) gewonnen haben. Der Mindestlohn macht bestimmte Investitionen in arbeitsintensiven Sektoren unrentabel, die Energiewende löst in bestimmten Branchen Standortverlagerungen aus. Wir können dieses wirtschaftspolitische Hazardeurspiel nicht beliebig fortsetzen.“

Ist die Euro-Krise noch beherrschbar?

Walter Sinn: „Die eigentliche Absicht der Niedrigzinspolitik ist, die Konjunktur in den südeuropäischen Ländern anzukurbeln. Ich fürchte allerdings, die Möglichkeiten der Geldpolitik sind da weitgehend ausgereizt.“

Hans-Werner Sinn:  „Die Probleme in Südeuropa sind ungelöst. Diese Länder haben ein fundamentales Wettbewerbsproblem, weil sie mit der inflationären Kreditblase der vergangenen Jahre schlicht zu teuer geworden sind. Dagegen hilft auch keine keynesianische Politik!...
Wenn mir die Nachfrage fehlt, weil meine Produkte zu teuer sind, dann nützt es gar nichts, nach dem Staat zu rufen. Das kann nicht die Lösung sein. Ich verstehe ja, dass die Finanzindustrie frisches Geld haben will, um ihre alten Engagements zu retten. Aber das kann doch nicht Maßstab für die Wirtschaftspolitik sein.“
„Die EZB macht die gleichen Fehler, die wir Deutsche bei der Wiedervereinigung gemacht haben. Exzessive Löhne kann ich nicht mit expansiver Geldpolitik heilen. Man muss das Übel an der Wurzel packen, sprich: die exzessiven Lohnsteigerungen korrigieren.“

Haben die Problemländer die Kraft für wahre Reformen?

Walter Sinn: „Wir beraten etliche Unternehmen in diesen Ländern. Ich habe schon den Eindruck gewonnen, dass gerade in Irland und Spanien die Unternehmen enorme Anstrengungen unternommen haben, um wettbewerbsfähiger zu werden. Wir sollten das nicht unterschätzen.“
„Keine Frage, in Spanien gibt es noch einiges zu tun. Aber etliche Branchen dort zeigen hoffnungsvolle Entwicklungen. Das reicht von Unternehmen der Bauindustrie über die Energiebranche bis hin zur Textilwirtschaft. Denken Sie nur an die Erfolgsstory von Zara: Das Unternehmen ist ausgesprochen wettbewerbsfähig. Oder nehmen Sie den aufstrebenden Mittelstand im Maschinenbau in Katalonien.“
„Eine Stimulierung der Konjunktur durch ein Fortsetzen der jetzigen Geldpolitik wird nur bedingt helfen können. Letztlich muss die Angleichung anders erfolgen, zum Beispiel durch Inflation in Deutschland und Deflation in Ländern wie Spanien. Dies bei gleichzeitigem Angehen struktureller Maßnahmen. Die Alternative wäre, wir machen Tabula rasa mit einem Schuldenschnitt und dem Austritt einzelner Länder aus dem Euro-Raum. Das halte ich aber für unrealistisch.“

Hans-Werner Sinn: „Irland hat viel getan, das stimmt. Spanien hat ein bisschen gemacht, hat aber noch einen weiten Weg vor sich. Die Arbeitslosigkeit liegt dort bei 25 Prozent, in der jungen Generation bei 55 Prozent. Das Land leidet unter einem kaum lösbaren Problem mit über tausend Milliarden Euro Außenschulden. Die spanischen Banken wurden beim Stress test geschont. Eine Deflation, die die EZB stets als Gefahr beschwört, weil sie viele Bankkunden in den Konkurs treiben würde, wurde gar nicht erst durchgespielt. Ich sehe Spanien überhaupt nicht positiv.“
„Ich sehe die Statistiken. Und die zeigen, dass der Stundenlohn im verarbeitenden Gewerbe in Spanien bei 24 Euro liegt und in Polen bei sieben Euro. Diese Differenz kriegt man nicht durch Wunschdenken weg, die kriegt man auch nicht dadurch weg, dass in Brüssel irgendwas entschieden wird. Das wird ein ganz mühsamer Anpassungsprozess.“

Lohnt es sich für uns, das bestehende System zu retten?

Walter Sinn: „Die Spielregeln für die Euro-Teilnehmer müssen klar sein, und vor allem müssen sie eingehalten werden. Wenn das gelingt, kann der Euro-Raum auch in Zukunft bestehen. Wir dürfen aber auch nicht die ursprüngliche Idee vergessen. Europa ist weit mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft, es ist eine politische Wertegemeinschaft, die uns Jahrzehnte des Friedens und der Prosperität beschert hat. Ich möchte mir nicht ausdenken, was passiert, wenn der Euro-Raum auseinanderbricht, welche Folgen das für die Beziehungen der Länder untereinander hat.“

Hans-Werner Sinn: „Lassen Sie mich mit einer Gegenfrage antworten: Ist der Euro es wert, dass wir unser Sparkapital den anderen Ländern umsonst zur Verfügung stellen? Etwa 70 Milliarden Euro an Zinsverlusten kosten Deutschland die Niedrigzinsen derzeit jährlich. Das ist nicht tolerabel. Die Politiker in diesen Ländern müssen einsehen, dass das Geld nicht auf der Straße liegt. Ich kann nur hoffen, dass alle noch zur Vernunft kommen, dass die betroffenen Länder Reformen angehen, sich restrukturieren und sparen. Sie sollen entscheiden, ob sie im Euro-Raum bleiben oder lieber mit einer eigenen Währung die Möglichkeit gewinnen wollen, abzuwerten und sich neu aufzustellen.“
„Das ist das entscheidende Argument, weshalb auch ich noch am Euro festhalte, nicht aus ökonomischen Gründen, sondern aus politischen. Doch das Euro-Experiment bewirkt für Europa Siechtum, wir sind die mit Abstand am langsamsten wachsende Weltregion. Und warum? Weil wir Sparkapital über Banken und Versicherungen in die Staatsapparate und den Immobiliensektor Südeuropas gelenkt haben. Statt unser Sparkapital sinnvoll zu investieren, wurde es dort aufgegessen oder verbrannt. Die Kapitalanleger wollten diesen Kurs eigentlich nicht fortsetzen, das hat der Ausbruch der Krise gezeigt. Jetzt aber sagt die Politik, macht das weiter, wir geben euch Geleitschutz. Wenn das Geld aber weiter in diese Länder fließen soll, dann darf niemand darüber jammern, dass hierzulande nicht genug investiert wird.“

Können wir verfahren nach dem Prinzip "Weiter So"?

Walter Sinn: „Nicht auf Dauer. Die Hoffnung, wir schaffen es mit Niedrigzinsen und neuen Schulden, die Konjunktur anzukurbeln, und wachsen so aus der Krise, wird nicht aufgehen. Reformen sind notwendig.“

Hans-Werner Sinn: „Wir reden über Reformen, meinen damit im Kern aber Lohnsenkungen in diesen Ländern. Diese würden schließlich zu Preissenkungen bei den hergestellten Produkten führen, die Länder wären dann wieder wettbewerbsfähiger. Nur, das wird nicht in notwendigem Umfang passieren, und deshalb wird den Ländern immer noch mehr Geld zur Verfügung gestellt. Das ist die Politik des schleichenden Siechtums.“

Was müssen wir tun?

Walter Sinn: „Das sind Gedankenspiele, die man für ein kleines Land wie Griechenland vielleicht anstellen kann. Die eigentlichen Herausforderungen sind derzeit aber Frankreich oder Italien. Diese Schlüsselländer müssen ihre Hausaufgaben machen, und dabei muss Europa ihnen helfen. Aber ich bleibe optimistisch, dass es diesen Ländern gelingt, wieder auf Kurs zu kommen. Sonst würde in der Tat das ganze System auseinanderfliegen. Wir können es uns nicht leisten, Italien etwa aus dem Euro austreten zu lassen.“

Hans-Werner Sinn: „Wir sollten ernsthaft erwägen, den Reset-Knopf zu drücken, das ganze Projekt zu bereinigen und anschließend neu aufzusetzen. Dazu gehören ein Schuldenschnitt und verbindliche Budgetbeschränkungen. Dazu gehört auch, dass wir einigen Ländern den Weg aus der Euro-Zone ebnen, damit sie die Möglichkeit haben, abzuwerten und wieder wettbewerbs fähig zu werden. Ein Austrittsszenario mag hässlich sein. Es wird im Vorfeld Kapitalflucht geben, Kapitalverkehrskon trollen müssten eingeführt werden. Dennoch: Je schneller man das hinter sich bringt, umso besser. Aber diese Länder sollten auch die Möglichkeit haben, wieder in den Euro-Raum einzutreten. Sie sind dann eben mal temporär in einem Sanatorium.“
„Bei Italien besteht das Problem zum Glück nicht in dem Ausmaß wie bei Griechenland oder auch Spanien. Für Italien beträgt der Abwertungsbedarf elf Prozent, das ist aus eigener Kraft machbar. Bei Spanien sind es 30 Prozent. Ich fürchte, das wird schwierig. Das Land muss selbst entscheiden, ob es in diesem Ausmaß Preissenkungen schafft. Es muss aber auch klar sein, dass wir ein Land nicht durchfüttern können, damit es im Euro bleiben kann.“

Droht uns eine Wirtschaftskrise?

Walter Sinn: „Unter anderem deshalb haben die Lebensversicherer ihre Garantieverzinsungen ja auch schon zurückgenommen. Aber noch mal zum Generationenproblem: Die jüngste Wohltat der Bundesregierung, die Rente mit 63, verschärft den Druck völlig unnötig. Es ist völlig klar, wir bezahlen das alle mit Verzicht auf künftigen Wohlstand, es geht zulasten unserer Kinder. Das Ganze muss aber nicht zwangsläufig in einer Katastrophe münden. Denn bei allen Risiken dürfen wir nicht unterschlagen, dass es auch positive Impulse aus der Weltwirtschaft für Europa gibt. Nehmen Sie die Erholung der amerikanischen Wirtschaft und den steigenden Dollarkurs. Das hilft unserer Exportwirtschaft.“
„Wir haben in einer Studie ein Plus von 28 Prozent errechnet. Das ist schon ein Wort. Dieser Rückenwind hilft gerade in der Phase der schwächelnden Konjunktur enorm. Dazu kommt der niedrige Ölpreis.“
„Das stärkt die hiesigen Unternehmen, und stabilere Unternehmen helfen letztlich auch dem Standort Deutschland. Gerade deutsche Unternehmen denken, handeln und investieren global, in den USA genauso wie in Asien. Und vergessen Sie nicht die gewaltigen Technologiesprünge. Gerade in Deutschland und Europa mögen manche die Digitalisierung oder das ,Internet der Dinge‘ als Bedrohung empfinden. Aber darin liegen auch ungeheure Chancen, wenn Wirtschaft und Politik hier die richtigen Weichen stellen.“

Hans-Werner Sinn: „Ich kann mich nur wundern, wie man hier sehenden Auges in die Katastrophe geht, ich sage das in aller Deutlichkeit. In 15 Jahren sind die deutschen Babyboomer 65 Jahre und wollen in Rente. Wir bekommen dann acht Millionen Rentner zusätzlich zu den 17 Millionen, die wir heute schon haben. Es ist absehbar, dass wir ein Problem bei der umlagenfinanzierten Rentenversicherung bekommen werden, aber auch bei der kapitalgedeckten Lebensversicherung. Die Versicherer haben das Geld unter anderem in Staatspapieren südeuropäischer Länder angelegt. Viel von diesem Geld wird nicht zurückkommen und wenn, dann nur, weil wir den Ländern als Steuerzahler das Geld schenken, das sie uns schulden.“
„Konjunkturelle Effekte helfen leider nicht bei der Überwindung demografischer Probleme.“
„Einverstanden. Aber können die Amerikaner uns tatsächlich aus der Krise ziehen? Wenn der US-Aufschwung den Export der Europäer anschiebt, so hilft es. Wenn der Aufschwung aber dazu führt, dass Kapital aus Deutschland und Europa nach Amerika wandert, dann nützt uns das nichts. Kapital, das in die USA fließt, kann nicht hier investiert werden.“

Was haben wir zu erwarten?

Walter Sinn: „Ich bin da optimistischer, auch wenn es ein schwerer Weg wird. Ich setze darauf, dass die südeuropäischen Länder den Strukturwandel aktiv angehen. Wir sollten deren Willen nicht unterschätzen. Aber es muss noch mehr passieren, auch bei uns, wir dürfen uns nicht auf der vermeintlich starken Position ausruhen. Die Politik ist gefordert, eine neue Vision für Europa aufzuzeigen, mein Zielbild wären die Vereinigten Staaten von Europa. Das wäre eine Weiterentwicklung, die nicht zuletzt Deutschland vorantreiben sollte.“

Hans-Werner Sinn: „Was Europa und die Euro-Zone angeht, fürchte ich, dass wir in eine Transfer-Union schlittern. Das wiederum erzeugt Stagnation und Siechtum. Daran wird sich in 15 Jahren die demografische Krise anschließen, die uns neue Schulden bescheren wird. Wie wir damit fertig werden sollen, weiß ich nicht.“

Walter Sinn führt seit Sommer 2014 die deutschen Geschäfte der Unternehmensberatung Bain & Company. Der Betriebswirt startete seine Laufbahn bei der Deutschen Bank und beriet dann rund 20 Jahre lang vor allem Finanzinstitute, zunächst für die Boston Consulting Group, seit 2011 dann für Bain & Company.

Hans-Werner Sinn ist Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Uni München sowie seit 1999 auch Präsident des Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Seine wirtschaftspolitische Position bezeichnet er als „ordoliberal“. Hans-Werner Sinn begleitet die Bemühungen um die Euro-Rettung kritisch und warnt vor der Vergesellschaftung der Schulden.