"Was uns da blühen kann"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Die Zeit, 08.01.2015

Ist die Migration ein Verlustgeschäft? Wie viel qualifizierte Zuwanderung brauchen wir? Ein Gespräch mit dem streitbaren Ökonomen Hans-Werner Sinn

Wir können Wissen importieren, wie seinerzeit bei der Einwanderung der Hugenotten" (Hans-Werner Sinn)

DIE ZEIT: Herr Sinn, die Kanzlerin sagt, Zuwanderung sei ein Gewinn für Deutschland. Hat sie recht?

Hans-Werner Sinn: Die deutsche Volkswirtschaft insgesamt profitiert davon, dass mehr Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Bei den Einnahmen und Ausgaben des Staates sieht die Rechnung allerdings anders aus.

ZEIT: Sie haben in der vergangenen Woche Berechnungen präsentiert, wonach die Migration ein Verlustgeschäft für den Staat ist. Weshalb?

Sinn: Wir haben in Deutschland einen Sozialstaat, der von oben nach unten umverteilt. Unsere Zuwanderer sind unterdurchschnittlich qualifiziert, verdienen unterdurchschnittlich und sind deshalb unter dem Strich Empfänger staatlicher Ressourcen. Der Geldwert der von ihnen bezogenen Leistungen übersteigt den Betrag, der an Steuern und Abgaben entrichtet wird.

ZEIT: Eine Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) errechnet ein Plus von 3300 Euro pro Kopf für das Jahr 2012.

Sinn: Sie beziehen sich auf die Studie von Holger Bonin für die Bertelsmann Stiftung. Dabei werden auf der Kostenseite nur die Sozialtransfers und die Aufwendungen für Schulen einbezogen. Bonin schreibt aber selbst, dass die fiskalische Bilanz ins Defizit gerät, wenn alle Staatsausgaben in Rechnung gestellt werden. Insofern gibt es keinen Widerspruch. Allerdings bezieht er sich bei dieser Gesamtbetrachtung nicht auf ein konkretes Jahr, sondern addiert die in der gesamten Lebenszeit anfallenden Zahlungen. Dabei kommt er auf ein Minus von 79 100 Euro.

ZEIT: Wie haben Sie gerechnet?

Sinn: Wir haben die nicht berücksichtigten jährlichen Ausgaben anteilig auf die Einwohner umgerechnet und kommen auf einen Betrag von 5100 Euro. Dieser wurde von den 3300 Euro abgezogen, sodass sich jährlich staatliche Nettokosten von 1800 Euro ergeben.

ZEIT: Ist es legitim, die Staatsausgaben so umzurechnen? Wenn ein zusätzlicher Autofahrer eine kaum befahrene Straße benutzt, entstehen keine zusätzlichen Kosten.

Sinn: Man kann die Migranten nicht veranlassen, nur solche Straßen zu nutzen. Viele öffentliche Einrichtungen sind gut ausgelastet, wenn nicht überlastet. Denken Sie an die vielen Staus, an die städtische Müllabfuhr, die Schulen, die Polizei oder die öffentlichen Ämter. Deshalb muss die Zahl der öffentlichen Einrichtungen und damit das Volumen der Ausgaben der Bevölkerung angepasst werden. Wäre es nicht so, müssten kleinere Länder größere Staatsanteile am BIP aufweisen als große. Das ist aber nicht der Fall. Nur bei den Verteidigungsausgaben gibt es eine Ausnahme von Belang. Die Bilanz bleibt aber mit minus 1450 Euro auch dann negativ, wenn man die Kosten der Bundeswehr herausrechnet.

ZEIT: Gastarbeiter haben das Land mit aufgebaut. Diese Leistungen werden bei Ihrer Rechnung nicht berücksichtigt.

Sinn: Nein, natürlich nicht. Es geht ja hier nur um die fiskalischen Effekte, und die waren wahrscheinlich auch damals negativ.

ZEIT: Aus der Wirtschaft kam Kritik an Ihren Zahlen. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer sagt, wir brauchten Zuwanderung.

Sinn: Ich nehme an, er weiß gar nicht, was wir gesagt haben, sondern kritisiert ein Zerrbild der Medien. Natürlich brauchen wir Zuwanderer. Man sollte die Vorteile für die Arbeitgeber allerdings nicht mit gesamtgesellschaftlichen Vorteilen gleichsetzen, denn die Immigration drückt die Löhne. Aus der Sicht der Arbeitnehmer, die sich dem Konkurrenzdruck der Migranten ausgesetzt sehen, stellt sich die Sachlage etwas anders dar als aus der Sicht der Unternehmer.

ZEIT: Sie wollen weniger Zuwanderung?

Sinn: Nein. Wir brauchen jedoch besser qualifizierte Arbeitnehmer. Je mehr ein Migrant verdient, desto mehr Steuern zahlt er und desto weniger abhängig ist er von Sozialleistungen. Ab einem gewissen Einkommensniveau wird der Finanzierungsbeitrag positiv. Wir können auch Wissen importieren, wie seinerzeit bei der Einwanderung der Hugenotten. Die Protestanten mussten 1685 vor Ludwig XIV. aus Frankreich fliehen und wurden vom Großen Kurfürsten aktiv angeworben, um Brandenburg aufzubauen. Das hat hervorragend funktioniert.

ZEIT: Das Institut der deutschen Wirtschaft argumentiert, dass die Qualifikation der nach Deutschland kommenden Zuwanderer in den vergangenen Jahren bereits stark gestiegen sei.

Sinn: Das mag sein. Sie ist aber nach den OECD-Statistiken des Jahres 2014 im internationalen Vergleich und auch im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung immer noch extrem niedrig. Der gut ausgebildete deutsche Sozialstaat zieht nun einmal bevorzugt die gering Qualifizierten an. Die hoch Qualifizierten gehen in die angelsächsischen Länder oder die Schweiz. Wir haben es hier mit einem fundamentalen Konflikt zwischen drei Zielen zu tun: der Sozialstaatlichkeit, der Freizügigkeit und der vollen Inklusion in das Sozialsystem, also der Gewährung von Sozialleistungen an Migranten, die hier nicht oder nur wenig arbeiten. Mindestens eines der drei Ziele muss eingeschränkt werden.

ZEIT: Welches soll das Ihrer Meinung nach sein?

Sinn: Ich würde jedenfalls weder die Freizügigkeit noch den Sozialstaat opfern. Wir sollten bei der Zuwanderung dafür sorgen, dass mehr hoch Qualifizierte ins Land kommen und weniger Migration in die Sozialsysteme stattfindet. Zuwanderer, die nicht zur Arbeitsaufnahme kommen, werden nach heutigen Regeln nach einer Wartezeit von maximal fünf Jahren voll und ganz in das Sozialsystem integriert.

ZEIT: Was würden Sie anders machen?

Sinn: Wir sollten innerhalb der EU lieber ein Heimatlandprinzip anwenden. Bedürftige EU-Bürger erhalten die nötigen Mittel von ihrem Heimatland, aber es steht ihnen frei, diese Mittel in einem Land ihrer Wahl zu konsumieren. Bei der Immigration aus Drittstaaten bin ich wie die SPD für ein Punktesystem nach dem Beispiel anderer Zuwanderungsländer, wie zum Beispiel Kanadas. Und wir müssen dafür sorgen, dass die bereits in Deutschland lebenden Zuwanderer so gefördert werden, dass sie auf dem Arbeitsmarkt eine Chance haben und möglichst rasch integriert werden. Da ist viel zu tun.

ZEIT: Die Botschaft ist dennoch: Die Zuwanderer wollen nur unser Geld. Die Grünen haben Ihnen vorgeworfen, "ausländerfeindlichen Vorurteilen" Nahrung zu geben.

Sinn: Auf dem Niveau möchte ich mich nicht gerne austauschen. Das Thema Migration bewegt die Menschen. Wir müssen sachlich und differenziert diskutieren, denn es gibt viele verschiedene Typen von Migranten.

ZEIT: Ist es angemessen, über Menschen nach Kosten-Nutzen-Erwägungen zu entscheiden?

Sinn: Zahlen sind ein Stück Rationalität. Ist die Kritik an der ökonomischen Methode also ein Plädoyer für mehr Irrationalität? Das wäre befremdlich. Ich sehe eine gewisse Schwäche der deutschen Gesellschaft beim Führen von emotionsfreien, sachlichen Debatten über die großen Fragen unserer Zeit. Alle Einwanderungsländer legen bei der Auswahl ihrer Immigranten ökonomische Kriterien an. Es geht ja hier nicht um die humanitäre Zuwanderung, also das Recht auf Asyl. Das ist eine völlig andere Debatte.

ZEIT: Sie sagten, das Thema Migration bewege die Menschen sehr. Warum ist das so?

Sinn: Weil ein riesiges Problem auf uns zukommt: Wegen der Alterung der Gesellschaft müssen immer weniger Junge immer mehr Alte finanzieren. Es wären 32 Millionen Migranten bis 2035 nötig, um Rentenniveau und Beitragssätze auf dem heutigen Niveau zu stabilisieren, doch das übersteigt vermutlich die Integrationskraft der Gesellschaft.

ZEIT: Das erinnert an die Forderungen von Pegida. Haben Sie Sympathie für diese Bewegung?

Sinn: Ich habe nichts mit Pegida zu tun, nichts mit der AfD und nichts mit den anderen Parteien. Ich halte mich bewusst fern von den Parteien. Mir geht es um die unabhängige wirtschaftliche Analyse von Systemen.

ZEIT: Wie konnte es so weit kommen?

Sinn: Die Politik hat trotz der Warnungen aus der Wissenschaft nichts unternommen gegen den dramatischen Rückgang der Geburten. Jetzt ist es zu spät. Daher brauchen wir mehr Migration. Das wird dieses Land kulturell verändern. Wir können aber nicht nur auf Migration setzen, sondern brauchen zusätzlich viel mehr Kinder.

ZEIT: Und wie wollen Sie das erreichen?

Sinn: Ich würde das erfolgreiche französische System übernehmen: freie Kindergärten und Kinderkrippen, Ganztagsschulen und ein Kindersplitting bei den Steuern. Außerdem würde ich eine Kinderrente einführen. Es würde neben dem bestehenden Rentensystem - das nicht angetastet wird - eine Zusatzrente geben, die sich an der Anzahl der Kinder bemisst. Wer keine Kinder hat, muss sich die Zusatzrente durch Ersparnisse bilden.

ZEIT: Was sind diese Ersparnisse wert, wenn in dreißig Jahren nicht mehr genug junge Menschen in Deutschland leben, um die Güter zu produzieren, die die Alten benötigen?

Sinn: Es gibt Länder mit einer wesentlich jüngeren Bevölkerung. Wenn die Deutschen mit ihrem Geld zum Beispiel Aktien aus diesen Ländern kaufen würden, dann würden sie Ansprüche auf die Wirtschaftsleistung dieser Länder erwerben.

ZEIT: Das geschieht aber nicht?

Sinn: Die deutschen Banken und Versicherungen haben zu viel Geld in europäische Staatsanleihen investiert - deren Rückzahlung in den Sternen steht. Der Fehler liegt im Regulierungssystem, das dazu starke Anreize gesetzt hatte.

ZEIT: Auch in anderen Erdteilen angelegtes Geld kann sich in Luft auflösen.

Sinn: Das gebe ich zu. Wir haben in dieser Krise gelernt, dass Forderungen an ausländische Staaten im Ernstfall nicht eingetrieben werden können, weil das souveräne Schuldner sind, die sich der Rückzahlung verweigern können. Deswegen Aktien. Eine Rente gibt es für eine Generation nur wenn sie spart, wenn sie gut ausgebildete Migranten hereinholt oder wenn sie Kinder in die Welt setzt. Mehr Möglichkeiten existieren nicht. Wir müssen alle drei Wege gehen.

ZEIT: Kann sich eine Gesellschaft nicht dafür entscheiden, einfach auszusterben? Sinn: Das wäre der Weg in das Chaos. Das ganze Rentensystem, ja der Staat an sich, ist eine Art Kettenbrief: Es beruht darauf, dass die Jungen die Alten stützen. Wenn es keine Jungen mehr gibt, haben wir ein Problem. Die Alten hungern, die verbliebenen Jungen wandern aus. Das wäre unerträglich. Wenn Sie in manche Altersheime gehen, bekommen Sie eine Ahnung davon, was uns da blühen kann.

Die Fragen stellte Mark Schieritz