Sinn: „Deutschland wird gezwungen, sein Sparkapital in die Südländer zu investieren“

Interview mit Hans-Werner Sinn Deutsche Mittelstands Nachrichten online, 24.03.2012

Hans-Werner Sinn beobachtet eine innereuropäische Kapitalflucht: Die deutschen Banken ziehen ihre Gelder aus Südeuropa ab. Damit erhöht sich der Druck auf die Währungsunion. Über die EZB-Gelder fließt das Geld jedoch wieder in den Süden. Weil die deutsche Politik bisher die Target 2- Salden verharmlost hat, könnten die deutschen Sparer und Steuerzahler am Ende auf ihren Milliarden-Forderungen sitzen bleiben.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Herr Sinn, nur mehr vier Länder der Eurozone weisen einen positiven Saldo im Target2-System auf. Gegen Ende des Jahres wuchs auch der Negativsaldo der Österreichischen Nationalbank. Wie erklären Sie sich das?

Hans-Werner Sinn: Die Target-Salden messen Geldflüsse über die Grenzen. Österreich ist wegen des Engagements seiner Banken in Osteuropa von einer gewissen Kapitalflucht betroffen. Das zeigt sich in den Daten.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Und wie erklären Sie sich die Negativsalden Italien und Spaniens?

Hans-Werner Sinn: Das ist der gleiche Vorgang: Kapitalflucht. Zum kleineren Teil sind das Anleger aus diesen Ländern, die ihr Geld in Sicherheit bringen. Zum größeren Teil geht es aber um Anleger aus Deutschland, insbesondere deutsche Banken, die ihre Kredite zurückziehen, die sie vorher diesen Ländern gegeben haben.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Bei einem Austritt Griechenlands würden die Verbindlichkeiten der griechischen Notenbank Target2-System unter allen Mitgliedsländern der Eurozone aufgeteilt werden. Auf die Deutsche Bundesbank würden entsprechend 28% entfallen. Allein die Verbindlichkeiten aus den Peripherieländern liegen derzeit bei mehr als 759 Milliarden. Was käme im Falle eines Zusammenbruchs der Währungsunion auf Deutschland bzw. die deutsche Bundesbank zu?

Hans-Werner Sinn: Dann stehen die gesamten Target-Forderungen, die heute bei etwa 550 Milliarden liegen, im Risiko. Das heißt, die Forderungen haben keine Rechtsgrundlage mehr.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Und was würde dann passieren?

Hans-Werner Sinn: Wir müssten versuchen, darüber zu verhandeln. Aber die Bundesbank und die Bundesregierung haben gesagt, dass die Target-Salden irrelevante statistische Verrechnungsposten seien. Es wird ihnen schwer fallen, diese irrelevanten Verrechnungsposten in werthaltige Forderungen zu verwandeln.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Kritiker Ihrer Überlegungen sagen, das Geld des Target 2-Systems sei eigentlich nur virtuell. Heißt das im Umkehrschluss, dass wir in Deutschland gar nichts merken würden, sollten diese Forderungen eingefordert werden können?

Hans-Werner Sinn: Doch natürlich würden wir das merken, denn hinter diesen Forderungen stehen ja unsere Sparguthaben und Lebensversicherungspolicen. Die bestehen eben zu 550 Milliarden Euro aus solchen Forderungen. Wenn die Target-Forderungen verloren gehen, sind unsere Ersparnisse in diesem Umfang weg. Immerhin handelt es sich um einen Betrag von 13.000 Euro pro Erwerbstätigen. Die Banken haben eine Forderung gegen die Bundesbank in dieser Höhe, die durch eine Forderung der Bundesbank gegenüber dem EZBSystem gedeckt ist. Wenn das EZB-System auseinander bricht und die Bundesbank diese Forderungen nicht eintreiben kann, dann richten sich die Forderungen der Banken faktisch gegen den deutschen Staat, denn der muss als Eigentümer der Bundesbank für deren Schulden aufkommen. Und damit hat der deutsche Sparer einen Anspruch gegen den deutschen Steuerzahler, aber dieser Steuerzahler ist er selbst.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Wie kann man sich das vorstellen, wenn die Forderungen gegen den deutschen Staat richten?

Hans-Werner Sinn: Das heißt, der Staat muss dann die Steuern erhöhen oder die Ausgaben kürzen. Und er wird wahrscheinlich beides machen, so dass also die deutschen Bürger genau so viel über den deutschen Staat verlieren werden, wie es nötig ist, ihre eigenen Vermögensansprüche gegenüber dem Banken- und Versicherungssystem zu erhalten. Also letztlich haben sie diese Ansprüche nicht, und darauf läuft es hinaus. Sie werden diese Ansprüche nicht realisieren können. Wenn wir im Alter unsere Ersparnisse zurück haben wollen, um davon zu leben, sind sie nicht mehr da, jedenfalls nicht mehr im Umfang der Target-Forderungen.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Sehen Sie bei den Target 2-Salden nur eine Gefahr für Deutschland, wenn ein Staat pleite ist und das System dann zerreißt oder gibt es noch andere Gefahren?

Hans-Werner Sinn: Auch wenn kein Staat pleitegeht, gibt es insofern Gefahren, als dieses ja eine öffentlich besicherte Kreditvergabe durch das EZB-System in die übrigen Länder ist, die dazu führt, dass letztlich dort mehr und in Deutschland weniger investiert wird. Das heißt, die Target-Salden gehen zu Lasten der Investitionen und des Wirtschaftswachstums in Deutschland. Damit werden die Arbeitnehmer die Hauptleidtragenden, denn ihre Arbeitsproduktivität hängt vor allem von dem in Deutschland arbeitenden Kapitalbestand ab. Wir werden als Deutsche gezwungen, unser Sparkapital, das wir am liebsten Zuhause investieren würden, zu einem Prozent Zins auf dem Wege über die EZB in die Südländer zu investieren. Das wäre ungefähr dasselbe, als wenn wir gezwungen würden, unsere Autos zu einem abgesenkten Preis, mit dem wir nicht zufrieden sein können, an eine europäische Institution zur Verteilung von Autos zu verkaufen.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Wie belastbar ist Ihrer Meinung nach das Target2-System. Gibt es so etwas wie eine natürliche Grenze?

Hans-Werner Sinn: Nein, so wird es immer weiter laufen. Eine harte Grenze gibt es nicht. Es gibt nur fließende Grenzen, die sich darin äußern, dass die Öffentlichkeit irgendwann die Nase voll hat und von der Politik Maßnahmen zur Begrenzung der Salden verlangt. Aber wenn das nicht passiert, geht das immer so weiter.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Muss Ihrer Meinung nach ein Ausgleich des Target2-Systems erfolgen?

Hans-Werner Sinn: Ja, wir müssen das wie die Amerikaner lösen. Die verlangen zwischen den Distrikt-Notenbanken, wo auch solche Salden auftauchen, eine Tilgung jeweils im April des Jahres. Würde man die amerikanische Lösung auf Deutschland anwenden, hätte die Bundesbank einen Anspruch auf Gold-besicherte Papiere im Umfang von 336 Milliarden Euro. Das sind 112 Transrapid-Strecken vom Münchner Bahnhof bis zum Flughafen Franz Josef Strauß.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Bundesbank Chef Weidmann sprach davon, dass das Eurosystem derzeit in größerem Maße den Interbankenmarkt ersetzt. Strengere Regeln bei der Kreditvergabe im Eurosystem führen dazu, dass die Unternehmen in den strauchelnden Ländern noch stärker unter einer Kreditklemme leiden?

Hans-Werner Sinn: Ja, so ist das.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Das ist also die Folge, die man in Kauf nehmen müsste?

Hans-Werner Sinn: Ja, das ist nicht nur die Folge, die man in Kauf nehmen müsste, sondern die letztlich auch unvermeidbar ist. Niemand will, dass diese Länder zusammenbrechen. Aber sie haben in der Vergangenheit im Übermaß billigen Kredit bekommen und haben sich an einen Lebenswandel gewöhnt, der ihrer Leistungsfähigkeit nicht entspricht. Sie haben also auf Pump gelebt. Und wenn jetz hier eine Kreditklemme einsetzt, weil die Sparer ihr Geld wieder in ertragreichere Anlagen investieren, dann sollten wir das nicht beklagen. Deutschland hat lange genug unter der Kapitalflucht gelitten. Wir waren Schlusslicht beim Wachstum und hatten lange Zeit die niedrigste Nettoinvestitionsquote aller OECD-Länder. Wir sollten froh sein, dass die deutschen Sparer und ihre Institutionen wieder in Deutschland investieren.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Welche Folgen würde der ESM für die Deutsche Bundesbank haben?

Hans-Werner Sinn: Der ESM entlastet die Bundesbank, weil er ein System ist, das den billigen Kredit durch gemeinschaftliche Haftung auch auf anderen Kanälen vom Kern Europas in die Peripherie leitet. Je größer seine Feuerkraft, desto weniger Kredit werden die Südländer aus dem Zentralbankensystem ziehen. Dadurch gehen für sich genommen auch die Target-Salden zurück. Aber damit kommt man vom Regen in die Traufe. Denn man verringert ja nicht die Haftung, sondern vergrößert sie.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Zudem sieht der Entwurf zum ESM vor, dass der Gouverneursrat das Recht hat, sein Kapital aufzustocken, wenn es notwendig ist, und der ESM erhält zusätzlich so etwas wie eine Banklizenz. Da kommen, wenn es um Milliardenkredite geht, die über den ESM laufen, extrem viele Haftungsrisiken auf Deutschland zu.

Hans-Werner Sinn: Ja natürlich. Man verringert das eine Haftungsrisiko über das EZB-System, indem man ein neues, viel Größeres schafft.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Griechenland hat einen Schuldenschnitt durchgeführt, auch dank der Zwangsumschuldung, gegen die mittlerweile Klagen angestrebt werden. Gibt es da auch Gefahren für die Bundesbank, vielleicht hinsichtlich möglicher anderer Schuldenschnitte in Ländern wie Portugal?

Hans-Werner Sinn: Man kann den Zeitpunkt der Wahrheit hinausschieben, indem man immer wieder neue Kredite vergibt. Das macht das Problem aber nicht kleiner, sondern größer.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Was kann man da machen?

Hans-Werner Sinn: Man muss den öffentlichen Kredithahn bei der EZB allmählich zudrehen und die Länder wieder dem Markt überlassen. Das geht am besten, wenn man eine Tilgung mit Gold-besicherten Wertpapieren wie in den USA verlangt. Dann hören die Schuldenländer auf, sich nach Belieben mit der Notenpresse selbst zu bedienen. Andere haben auch davon gesprochen, dass man Strafzinsen erhebt. Bundesbank-Präsident Weidmann hat in einem Brief an den Präsidenten der EZB eine Besicherung der Target-Salden verlangt, die dann für den Fall des Auseinanderbrechens des Euros noch werthaltig wären.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Aber das würde dazu führen, dass Länder wie Portugal und Griechenland diese Sicherheiten vielleicht gar nicht aufbringen könnten und wahrscheinlich auch nicht in der Lage sein würden, die Kredite langsam zu tilgen.

Hans-Werner Sinn: Naja, aber Sicherheiten haben sie noch. Da gibt es in Griechenland sehr viel Land, das dem Staat gehört. Gerade haben die Griechen eine Delegation in die Türkei geschickt, um dort Inseln zu verkaufen. Man kann also Pfandbriefe, die durch das Land besichert und von Seiten des Staates ausgeben werden, zur Auslösung der Target-Salden nutzen. Das ist auch keine völlige Sicherheit, aber mehr als Target-Forderungen, die man nicht fällig stellen kann. Machen wir uns nichts vor. Schützen können wir uns vor weiteren Vermögensverlusten nur, wenn wir erreichen, dass die Kreditvergabe durch das Euro-Geldsystem aufhört und nur noch Kredite vergeben werden, über die der Bundestag entscheidet. Je mehr Kredit wir dorthin geben, desto größer werden die Schulden der Länder, und desto größer wird unser Verlust. Aber für die Politiker ist es von Vorteil, wenn man den Zeitpunkt der Wahrheit hinauszögert, denn sie wollen zunächst einmal nur die nächste Wahl gewinnen. Dass die Schulden so immer größer werden, stört offenbar weniger, wenn der Zeitpunkt des Offenbarungseids in eine spätere Legislaturperiode verschoben werden kann.

Deutsche Mittelstands Nachrichten: Was glauben Sie, wie lang man das noch hinauszögern kann?

Hans-Werner Sinn: Man kann das schon noch ein paar Jahre hinauszögern. Aber das ist schwer einschätzbar. Ich bin sehr gespannt, wie lange die Bürger das alles noch mitmachen.

 

Das Interview führte Anika Schwalbe