Es lohnt sich, den Euro zu verteidigen

Interview mit Hans-Werner Sinn, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28.04.2013, Nr. 17, S. 23

Starökonom Hans-Werner Sinn plädiert für eine Währungsunion der Starken und verlangt höhere Opfer von den Sparern und den Banken.

Professor Sinn, in Deutschland fordert eine neue Partei den Ausstieg aus dem Euro. Zu Recht?

Die Argumente der Partei sind größtenteils vernünftig. Bernd Lucke und viele seiner Mitstreiter sind anerkannte Ökonomen, die wissen, wovon sie reden. Trotzdem gehöre ich der Partei nicht an und gebe dem Euro noch mehr Chancen, als die Kollegen es tun.

Halten Sie die Rückkehr zur D-Mark für unrealistisch?

Ich glaube, dass es sich lohnt, den Euro als solchen zu verteidigen. Ich halte es aber für einen großen Fehler, die schwachen Länder Südeuropas auf Biegen und Brechen im Euro zu halten. Damit hilft man diesen Ländern nicht, und man verringert die Überlebenswahrscheinlichkeit des Euro.

Beruhigt sich die Krise nicht gerade etwas?

Nur vordergründig, weil die Steuerzahler der noch gesunden Länder über die Europäische Zentralbank und den Hilfsfonds ESM gewaltige Kredit- und Haftungsrisiken eingehen. Das hilft den privaten Gläubigern der südlichen Länder, sich aus dem Staube zu machen, aber es macht die Staaten des Nordens an ihrer Stelle zu Gläubigern des Südens. Streit und Zwietracht zwischen den Völkern sind dadurch programmiert.

Inwiefern hilft man den Gläubigern, sich aus dem Staube zu machen?

Nehmen Sie Zypern. Die EZB hat zugelassen, dass die zyprische Notenbank den privaten Banken im vergangenen Jahr in großem Umfang Notkredite gab. Mit deren Hilfe konnten sie Einlagen auszahlen, obwohl sie eigentlich schon pleite waren. Das grenzte an Konkursverschleppung. Viele Großanleger konnten ihr Vermögen noch kurz vor Toresschluss in Sicherheit bringen. Wenn man Schuldenschnitte macht, dann lieber gleich. Je später man damit anfängt, desto mehr Verluste bleiben an den Steuerzahlern Europas hängen.

War Zypern die historische Wende in der Euro-Rettung?

Die Kreditgeber eines Staates haben wir im Fall Griechenlands schon vor einem Jahr zur Kasse gebeten. Dennoch war Zypern eine Wende. Die Europäische Union hatte noch im Juni vergangenen Jahres erklärt, dass es bis zum Jahr 2018 keine Gläubigerbeteiligung bei der Bankenrettung geben werde. Das war ein Skandal, gegen den 480 deutsche Ökonomen in zwei Aufrufen protestiert haben. Bei der Politik dauerte die Einsicht etwas länger.

So wie in Zypern macht man es jetzt immer?

Ja. Die Summen, um die es geht, sind für die Steuerzahler viel zu groß. Die Schulden der Banken in den Krisenländern liegen mit neun Billionen Euro bei fast dem Dreifachen der Staatsschulden, und es wird geschätzt, dass ein Zehntel davon toxisch ist. Nur eine Gruppe kann die anstehenden Lasten tragen, das sind die Gläubiger der Banken selbst.

Sie halten es also für richtig, dass auch in anderen Ländern Europas die Sparer künftig für die Bankenrettung bluten sollen?

Wenn die Banken pleite sind, natürlich. Wer denn sonst? Es soll künftig eine klare Hackordnung geben. Damit im Falle einer Bankenpleite jeder weiß, an welcher Stelle in der Reihenfolge der Gläubiger er steht.

Das verunsichert aber viele Sparer, die sich fragen, ob ihr Geld noch sicher ist.

Der liebe Gott steht leider nicht zur Verfügung, die gewünschte Sicherheit zu erzeugen. Es ist gut, wenn Kleinsparer zu Lasten der Großsparer durch eine Einlagensicherung geschützt werden. Aber auch die Einlagensicherung kann pleitegehen. Nichts ist völlig sicher. In Zypern haben ausländische Steuerzahler, die mit der ganzen Sache gar nichts zu tun hatten, Sparer mit Guthaben bis zu 100 000 Euro gerettet.

Halten Sie die Grenze für richtig?

Sie ist zu hoch. Wer hat denn 100 000 Euro auf dem Bankkonto? Das sind doch keine armen Leute. Die Steuerzahler der Rettungsländer besitzen zumeist viel weniger. Bedenken Sie, dass das mittlere Vermögen eines deutschen Haushalts nach der Erhebung der EZB nur bei der Hälfte dieses Betrages liegt. Ich halte es für schlichtweg unerträglich, dass normale deutsche Vermögensbesitzer herangezogen werden, um zyprische Bankguthaben im Umfang des Doppelten ihres eigenen Vermögens abzusichern. Das aber will Brüssel mit aller Gewalt in der Bankenunion durchsetzen. Deutschland hat indes bislang keinen Versicherungsvertrag vereinbart, nach dem wir die Bankenrisiken anderer Länder übernehmen. Und man kann keine Brandschutzversicherung abschließen, nachdem der Brand ausgebrochen ist.

Sind die Banken in Europa nach der Finanzkrise zu sanft angefasst worden?

Leider ja. In Amerika sind in der Finanzkrise Hunderte von Banken pleitegegangen. Ihre Gläubiger mussten auf viel Geld verzichten, das war ein heilsamer Prozess. In Europa ließ man fast keine Bank pleitegehen, bis auf Laiki jetzt in Zypern. Auch in Deutschland haben wir im Jahr 2010 für 280 Milliarden Euro marode Banken gerettet, vor allem die HRE und die Commerzbank. Noch nicht einmal das Hybridkapital der Banken, dessen Aufgabe es ja ist, Verluste abzufangen, wurde angetastet. Da haben normale Steuerzahler, Rentner und Hartz-IV-Empfänger reichen Anlegern aus der Patsche geholfen.

Nun geht in Deutschland das Leben trotz der Eurokrise ganz gut weiter. Bleibt das so, oder holt uns die Krise irgendwann ein?

Das Paradoxe ist: Es geht uns nicht trotz, sondern wegen der Eurokrise gut. Vor der Krise galt Deutschland als kranker Mann Europas. Beim Wirtschaftswachstum hatten wir lange Zeit die rote Laterne, weil wir unsere Ersparnisse ins Ausland getragen haben, anstatt sie im Inland zu investieren. Jetzt bleibt das Anlagekapital wegen der Krise im sicheren Heimathafen. Das hat in Deutschland einen Immobilienboom ausgelöst, die Wirtschaft angekurbelt und die Arbeitslosigkeit sinken lassen. Aber natürlich birgt die Krise gewaltige Zukunftsrisiken für Deutschland. Wir haben Arbeit, aber wir verlieren durch die Ausweitung der Haftungssummen immer mehr von unserem sauer verdienten Vermögen.

Sie haben die Salden aus dem sogenannten Target-System, über das die europäischen Notenbanken ihren Zahlungsverkehr abwickeln, als eine große Gefahr für Deutschland in die Debatte eingebracht. Gibt es da jetzt Entspannung?

Bei den Salden handelt es sich um Kredite, die die Deutsche Bundesbank anderen Zentralbanken einräumte, indem sie in ihrem Auftrag Zahlungen ausführte. Die Kredite gingen in letzter Zeit etwas zurück, weil den Steuerzahlern noch viel größere Haftungsrisiken aufgebürdet wurden. Die Europäische Zentralbank hat den Besitzern der Staatspapiere Südeuropas gesagt, sie sollen sich bitte keine Sorgen um ihr Geld machen: Vor einem Konkurs eines Landes werde die EZB die Papiere kaufen und die Abschreibungsverluste den Steuerzahlern der noch gesunden Länder Europas anlasten. Das Schutzversprechen der EZB hat die Target-Kredite der Bundesbank verringert, weil nun wieder mehr privates Geld an die Staaten Südeuropas verliehen wird. Die Notenbanken des Südens führen deshalb auch einmal wieder Zahlungen für die Bundesbank aus. Die Risiken der Steuerzahler wurden durch die Schutzversprechen aber nicht verringert, sondern vergrößert.

Wie groß sind die Target-Salden heute?

Die Deutsche Bundesbank hat immer noch Target-Forderungen in Höhe von knapp 600 Milliarden Euro in den Büchern. Sollte das Eurosystem zerbrechen, ist das Geld weg. Die Bundesbank ist dann mit ihrem Eigenkapital von rund 140 Milliarden Euro gleich mehrfach pleite. Dann muss der deutsche Steuerzahler dauerhaft auf Bundesbankgewinne verzichten oder die Bundesbank mit Steuergeldern rekapitalisieren. So oder so sind die 600 Milliarden weg, wenn man den Verlust versicherungsmathematisch richtig berechnet.

Im Augenblick fluten die Notenbanken vieler Länder die Märkte mit Geld. Ist Gelddrucken eine Möglichkeit, um aus der Schuldenkrise zu kommen?

Die Zinsen sind in all diesen Ländern schon jetzt fast bei null. Da kommt man an eine starre Grenze, an der die Geldpolitik ihre Wirksamkeit verliert.

Warum gibt es im Augenblick trotz lockerer Geldpolitik keine Inflation in Deutschland?

In Europa hielt sich der Zuwachs der Geldmenge in Grenzen, denn bildlich gesprochen hat die Europäische Zentralbank das Geld, das sie in Südeuropa zusätzlich drucken ließ, in Nordeuropa wieder schreddern lassen.

Bleibt die Inflation so niedrig, wenn die Wirtschaft stärker anspringt?

Man kann nicht ausschließen, dass es irgendwann zu mehr Inflation kommt. Im Augenblick ist davon nichts zu spüren.

Der frühere Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin will sein VWL-Diplom zurückgeben, wenn die lockere Geldpolitik nicht zu Inflation führt. Wird er seinen Titel verlieren?

Wir haben das Risiko, dass die EZB ihre ausstehenden Kredite an die Krisenländer nicht zurückbekommt und die Bundesbank in die Überschuldung gerät. Das ist die wahre Gefahr, nicht die Inflation. Die Inflation ist ein Nebenschauplatz.

Sie wollen trotz der von Ihnen beschriebenen Risiken am Euro festhalten. Was schlagen Sie als Krisenlösung vor?

Ich bin für temporäre Austritte schwacher Länder. Durch eine anschließende Abwertung würden diese Länder wieder wettbewerbsfähig und könnten später zum neuen Wechselkurs, also zu kleineren Preisen und Löhnen, wieder in den Euro zurück. Die Rückkehroption sollte man mit Reformauflagen versehen. Das würde die politischen Systeme der Austrittsländer, die heute durch die ausufernde Arbeitslosigkeit gefährdet sind, wieder stabilisieren. Im Ganzen ist der Euro-Verbund zu starr. Bis die staatliche Einheit Europas erreicht ist, sollten wir eine Lösung zwischen einem Festkurssystem à la Bretton Woods und einem festen Währungsgebiet wie dem Dollar anstreben. Nur so lässt sich der Euro noch halten.

An welche Länder denken Sie beim Austritt?

Allen voran an Zypern und Griechenland. Wenn Zypern heute aus dem Euro austreten würde, hätte das keine dramatischen Folgen. Die Kapitalflucht, die für einen solchen Fall an die Wand gemalt wird, haben wir dort ja schließlich schon hinter uns. Die Kapitalverkehrskontrollen und die Begrenzung der Entnahme von den Konten verhindern eine Fortsetzung der Flucht. Sobald Zypern ausgetreten ist, kann man alle Kontrollen aufheben.

Das Gespräch führte Christian Siedenbiedel.

Der Krisenökonom Hans-Werner Sinn, der im März 65 Jahre alt geworden ist, gehört zu den streitbarsten deutschen Ökonomen. Der gebürtige Westfale ist seit 1984 Wirtschaftsprofessor in München und leitet seit 1999 das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung. Mit seinen Büchern sorgte Sinn immer wieder für heftige wirtschaftspolitische Debatten in Deutschland: 1991 mit "Kaltstart" über die Fehler bei der deutschen Wiedervereinigung, 2005 mit "Basarökonomie" über die Schwächen des Wirtschaftsstandorts Deutschland, 2008 mit "Das grüne Paradoxon" über die Widersprüche der Klimaschutzpolitik und 2009 mit "Kasino-Kapitalismus" über Ursachen der Finanzkrise im Bankensystem. Sein jüngstes Buch heißt "Die Target-Falle" und beschäftigt sich mit den unterschätzten Risiken der Euro-Krise.