Mit Sinn & Verstand

Interview mit Hans-Werner Sinn, N8, 2012, S. 78-84

Was der Vorsitzende des ifo Instituls, Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Werner Sinn, über Banken, Angela Merke! und die Schuldensozialisierung durch Eurobonds sagt.

Herr Professor Sinn, Sie haben in Ihrem Buch "Kasino-Kapitalismus" sehr klar beschrieben, wie es zur Finanzkrise kam. Was war das Ergebnis und hat sich etwas geändert?

Die Fehler der Vergangenheit haben zum großen Teil damit zu tun, dass Geschäfte ohne Haftung durchgeführt wurden. Damit sind in Amerika die regressfreien Kreditstrukturen gemeint. Das sind strukturierte Wertpapiere, bei denen der Käufer einen Anspruch gegen andere Ansprüche hat - aber nicht gegen den Emittenten. Der Käufer kann seine Ansprüche im Zweifel gar nicht geltend machen, weil die Ansprüche bis zu 40 Mal hintereinander geschaltet wurden. Bis heute gilt, dass man Banken stärker reguliert, damit sie mehr Eigenkapital vorhalten. Denn wenn sie kein Eigenkapital haben, vernachlässigen sie das Risiko, weil sie nicht viel zu verlieren haben. Sie suchen deshalb größere Risiken, weil Risiken ja auch Chancen bieten, und setzen nur auf die Chancen, ohne zu sehen, dass Verluste anfallen können, die weitaus größer sind als die Chancen, die sich ihnen bieten. Da haben wir in Europa ein starkes Problem gehabt bei den Staatspapieren. Die Banken konnten sich vollpumpen mit diesen Staatspapieren und dabei von der Fiktion der Sicherheit ausgehen.

Dabei wissen wir heute, dass Staatspapiere zum Teil gar nicht bedient werden. Und dieses Risiko wird auf die Staatengemeinschaft abgewälzt. Das ist also ein Geschäft zu Lasten Dritter.

Als Unternehmer oder als Privatperson bekommt man bei der Bank ja niemals einen Kredit, wenn man nicht für Sicherheiten sorgen kann. Andererseits achtet man selbstverständlich darauf, wenn man einen Vertrag schließt, dass man den Vertragspartner kennt. Das sind doch geradezu banale Essentials, die Sie erwähnen, die im allgemeinen Geschäftsverkehr gang und gäbe sind. Wie kann es passieren, dass Rieseninstitutionen, wie Banken, derart Luftschlösser bauen, indem sie sich nicht an gängige Usancen halten?

Sie haben auf den politischen Rückhalt gesetzt. Wenn schon die Regierung sagt, dass Staatspapiere südlicher Länder sichere Investitionen seien, dann verhält man sich nach den Regeln, wenn man sie kauft, und hat sogar triple-A-gesicherte Papiere. Was will man mehr? Dass das wirkliche Risiko sehr viel größer war, hat man nicht wissen wollen.

Sind bankinterne Kommunikationsstrukturen die Ursache, die solche Entwicklungen begünstigt haben?

Ja und nein. Letztlich ist es im Interesse der Anteilseigner, dass diese Risiken gewählt werden. Denn sie sind es ja, die davon profitieren. Man macht Geschäfte, die 99 Jahre gut gehen und im 100sten gibt's dann den Knall. In diesem Fall treten allerdings Verluste auf, die die Gewinne der 99 Jahre kompensieren. Aber diese Verluste müssen die Banken gar nicht tragen, weil sie ja nur das bisschen Eigenkapital verlieren, das in der Regel 2 bis 3 Prozent der Bilanzsumme ist. Nicht mehr.  Und noch nicht einmal das verliert eine Bank, weil nämlich die Politik dann diese Bank als "systemrelevant" einstuft und auch noch diese Verluste übernimmt.

Das hört sich nach einer Riesenschweinerei an?

Das ist auch eine Schweinerei. Aber das ist ein Fehler der Regulierung, der durch politische Interessen eintritt, die die südlichen Staaten betrifft. Das Ganze wurde mitverursacht durch die wenig demokratischen Einflüsse der Bankenlobbies. Das alles muss korrigiert werden.

Haben Sie mit Banken zu tun?

Ja. Die stimmen schon zu, dass es so ist. Natürlich offiziell nicht so gerne. Ich will auch nicht sagen, dass es sich dabei um ein bewusstes Kalkül handelt. Es ist eher der normale Geschäftsgebrauch, an extreme Risiken nicht zu denken und sie von sich zu weisen. Das geht nach dem Motto: "Wenn dieser Knall passiert, dann sind wir alle tot, und deshalb kann ich das nicht bei meinen normalen Geschäftsüberlegungen berücksichtigen."

So ungefähr müssen Sie sich das vorstellen.

Sie sagten, dass das geändert werden müsse. Das muss dann aber zügig und ziemlich brutal geändert werden, oder?

Ja, wir haben jetzt ja schon das Basel III- System. Da ist einiges schon verändert und zwar insofern, als es jetzt eine "leverage ratio" gibt. Dabei muss man für alle Posten einer Bilanz ein gewisses Maß an Eigenkapital vorhalten. Aber was wirklich wichtig wäre, wären noch deutlich höhere Eigenkapitalquoten. Außerdem müssten die risikogewichteten Aktiva für die Banken verändert werden. UND: Die Amerikaner sollten sehr daran arbeiten, nicht mehr regressfreie Kreditstrukturen zuzulassen. Ein Beispiel: Ein Hauseigentümer in Amerika wird behandelt, als wäre das Haus eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Das bedeutet: Wenn das Haus überschuldet ist, dann kann sich der Eigentümer von dannen machen und muss dafür nicht aufkommen.

Das kennen wir in Europa gar nicht. Wenn in Europa jemand überschuldet ist, kann er nicht schlafen. weil er weiß, dass ihn die Bank verfolgt bis ans Ende seiner Tage.

Sind Sie der Meinung, dass Frau Merkel in diesen Fragen einen guten Job macht?

Das ist schwer zu beurteilen. Mir gefällt die Politik letztlich nicht, aber ich bin natürlich nicht naiv und weiß um die politischen Zwänge, denen sie ausgesetzt ist. Sie hat ja nicht viel Handlungsspielraum. Sie wird von vielen bedrängt. Da ruft Obama an, weil er Angst davor hat, dass auch die amerikanischen Versicherungen für Staatskonkurse eintreten müssen. Sie wird angerufen von den Staatschefs der südlichen Länder. Sie wird von den Franzosen angerufen, von der EU auch. Alle wollen an das deutsche Geld ran. Und sie sitzt auf dem deutschen Sparschwein und versucht das krampfhaft zu verteidigen. Das ist sehr schwer. Und dann lässt sie sich hin und wieder doch dazu bringen, etwas rauszurücken.

Was sollte sie stattdessen tun? 

Also ich glaube, wir brauchen in Europa einen viel grundlegenderen Ansatz, als mit diesem Klein-Klein innerhalb der existierenden Strukturen weiterzumachen. Wir müssen die Eurozone neu aufstellen. Nicht alle Länder gehören dazu, die da jetzt drin sind. Sie ist viel zu groß. Wir brauchen eine grundlegende Bankenregulierung. Wir brauchen ein Konkurssystem für Staaten, welches festlegt, wie lange und in welchem Umfang sie Hilfen bekommen und wie das Konkursverfahren ist. Und wir sollten diese Rettungsschirme nicht so unterschreiben. Denn zunächst einmal muss Europa sein Recht einhalten. Und das Recht ist eindeutig: Es gibt nach dem .. Maastrichter Vertrag" weder eine monetären Bail-aut noch einen fiskalischen Bail-aut ("Bail-out" bezeichnet in den Wirtschaftswissenschaften den Vorgang der Schuldenübernahme durch Dritte; Anm. der Red). Der "Maastrichter Vertrag" wurde nämlich nicht geändert, sondern ist in seiner bisherigen Form weiterhin gültig. Insofern darf man das alles gar nicht machen, was man jetzt macht! Das ist meine Auffassung. Das heißt nicht, dass ich nicht gegen eine Veränderung des Vertrages wäre. Ich stimme zu, dass man gewisse Hilfen geben sollte. Aber das muss alles auf rechtlicher Basis geschehen. Und es darf auch nicht zu einem Selbstbedienungsladen der Länder ausarten, die die Zinsen auf dem Markt für sich zu hoch finden und sich deshalb über die EZB und über den Luxemburger ESM-Fond der öffentlichen Rettungssysteme bedienen.

Das hört sich an, als ob Sie gefährlich leben würden, wenn Sie solche Meinungen öffentlich sagen. Sie treten damit doch sicherlich einigen mächtigen Herrschaften auf die Füße.

Na ja klar. Aber das sind alles friedliche Menschen.

Der britische "Independent" hat Sie im letzten Jahr zu einem der zehn wichtigsten Veränderer auf unserem Globus gerechnet. Ich denke mal, da hört man sehr gut zu, wenn Sie was sagen.

Es gibt aus der ökonomischen Fachwissenschaft bestimmte Erkenntnisse, die man berücksichtigen muss. Die Politik geht immer vom Primat der Politik aus, wobei sich das Ökonomische ihm unterordnen muss. Aber das tut es eben nicht. Innerhalb der Marktwirtschaft gibt es Gesetzmäßigkeiten, die sind fast so hart wie Naturgesetze. Wenn ich die ändern will, muss ich das ganze System verändern. Da kann ich nicht hier oder da bestimmte Anordnungen erlassen und bestimmte Verträge machen, sondern da muss ich am Ende das System verändern. Und das haben einige in Europa vor. Die wollen mit den Eurobonds ja nichts anderes, als eine europäische Institution schaffen, die bestimmt, wo die Ersparnisse hinfließen, anstatt das der Kapitalmarkt tut. Das ist ein Schritt zur Systemveränderung in Richtung eines sozialistischen Systems.

Wer hat aus Ihrer Sicht so etwas vor?

Diejenigen Führer Europas, die die Eurobonds wollen.

Also alle außer Frau Merkel?

Zumindest viele. Herr Monti will das. Hollande hat das gefordert. Alle überschuldeten Ländern wollen das.

Sozialismus aus Verzweiflung?

Sie nennen das natürlich nicht so. Sie stellen das als harmlos dar. Aber wenn ich Eurobonds einführe, dann sozialisiere ich die Schulden. Das ist Schulden-Sozialismus. Was ist es denn sonst, wenn man das Haftungsprinzip aufgibt und jeder seine Schulden einer Gemeinschaft auferlegen kann, anstatt selber für seine Schulden aufzukommen? Es ist doch das Grundprinzip eines jeden Wirtschaftens, dass man selber aufkommen muss für seine Schulden. Mit den Eurobonds wird das aufgegeben.

Sie haben 2003 ein Buch geschrieben mit dem Titel "Ist Deutschland noch zu retten? Ist es noch zu retten?

Es ist ja gerettet worden. Einerseits durch die Reformen der "Agenda 2010" und andererseits durch die inneren Strukturreformen der Firmen, die ihre Produktivität verbessert haben. Deutschland hat in den letzten zehn Jahren seine Wettbewerbsfähigkeit wiederhergestellt und deutlich verbessert - insbesondere gegenüber den anderen EuroLändern. Das war ein mühsamer Prozess. Erinnern Sie sich: Die Einführung des Euro hatte damals zur Folge, dass Kapital aus Deutschland abfloss. Wir hatten selbst kaum noch eigene Investitionen. Wir hatten aber Massenarbeitslosigkeit und die niedrigste Wachstumsrate. Da war Angst angesagt. Aus dieser Angst heraus, gab es die politischen Reformen und auch die privaten Restrukturierungen in den Firmen. Und alles zusammen hat Deutschland gerettet.

Das heißt doch aber auch, dass man in einer relativ kurzen Zeit das Ruder rumreißen kann, wenn alle mitmachen.

Auf jeden Fall. Aber es sind eben zehn Jahre, die das gedauert hat. Wenn man jetzt den Südländern sagt: ..Ihr müsst zehn Jahre lang durch ein Tal der Tränen gehen", dann finden die das sehr lang. Es ist ja ein interessantes psychologisches Phänomen, dass zehn Jahre im Vorhinein lang sind, in der Retrospektive aber kurz erscheinen.

Was bliebe noch für Deutschland zu tun? Welche politischen Reformen stehen noch an? Oder können wir jetzt mal eine kleine Pause einlegen?

Wir sollten den Schritt in Richtung auf mehr Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt und eine aktivierende Sozialpolitik fortsetzen, die Gerhard Schröder begonnen hat. Ich sehe aber leider Tendenzen in die andere Richtung. Denken Sie an die Mindestlöhne, die jetzt beschlossen werden sollen.

Glauben Sie, dass Gerhard Schröder für die von ihm eingeleiteten Reformen eigentlich genügend Respekt bekommen hat oder bekommt?

Er war in seiner eigenen Partei nicht beliebt und die politischen Gegner mochten ihn auch nicht - insofern eigentlich NICHT. Aber mit dem Abstand zu dieser Zeit sieht man vieles neutraler und ich denke, es wird heute allgemein anerkannt, dass es sehr wichtige Reformen waren, die von ihm seinerzeit durchgeführt wurden, auch wenn sie nicht reichen. Ich denke, dass noch sehr viel mehr geschehen müsste. Aber wenn man sieht, wie schwer es der Politik fällt, überhaupt eine Reform in die Gänge zu bringen, dann ist das schon beachtlich, was er damals geleistet hat.

Wie muss man psychisch beschaffen sein, um so etwas durchzuhalten? Geht das nur mit einer gewissen westfälischen Sturheit?

Ja. Würde ich sagen.

Die Rettung in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wird immer gern im Wachstum gesehen. Kann dieser Wachstumskult auf Dauer gut gehen? Oder ist das nicht eine Schimäre, die irgendwann einmal implodiert?

Im Wachstum zeigt sich das Streben nach Fortschritt. Wir haben inzwischen gelernt, dass Wachstum nicht schmutzig sein muss. Es gibt qualitatives Wachstum, welches immer mehr in den Vordergrund gestellt wird. Aber Wachstum kann nicht heißen, dass man mit Schuldenprogrammen seinen Konsumstandard erhöht, wie das jetzt in Europa propagiert wird. Unter dem Namen Wachstum wird ja ein Leben über die Verhältnisse und weiteres Schuldenmachen gemeint. Wachstum ist ein Allerweltswort, das jeder für seine Zwecke missbraucht.

Zum Schluss eine ganz andere Frage: Der "ifo Geschäftsklimaindex" enthält welche Faktoren und zu welchem Prozentsatz?

Wir fragen 7000 Unternehmen nach der aktuellen Auftragslage und ihren Erwartungen für die nächsten sechs Monate. Sie können sagen, "es wird besser", "es bleibt wie es ist" oder "es wird schlechter".  Das sind qualitative Antworten, also keine quantitativen Aussagen. Daraus ermitteln wir einen Indexwert - und zwar schon seit über 60 Jahren. Die prognostische Wirkung ist dabei sehr präzise, zumal die offiziellen Statistiken ja alle Aussagen über die Entwicklungen "im Nachhinein" machen.

Und der Gedanke dahinter ist: Unternehmer müssen nach vorne schauen und auf die zu erwartenden Entwicklungen schauen.

Ja. Und vor allem wissen Unternehmer ja schon, was im nächsten halben Jahr sein wird. Sie wissen, wie viel sie JETZT zu tun haben und was in ihren Auftragsbüchern steht. Und darüber berichten sie, ohne dass sie diese Zahlen aus wettbewerbstechnischen Gründen preisgeben. Aber sie können eine Aussage treffen. Der "ifo Geschäftsklimaindex" erklärt die Konjunktur besser als jeder andere Index. Und er ist, nach einer Umfrage von Reuters, der wichtigste Indikator Europas.

Aber Sie erheben ihn nur in Deutschland.

Ja. Aber dadurch, dass Deutschland ja eine Exportnation ist, hat man damit implizit eine Aussage für die ganze Welt.

Da haben Sie aber ein wichtiges Werkzeug in Ihren Händen.

So ein Instrument ist potentiell natürlich eine Versuchung. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir eine kontrollierte Prozedur haben, wie diese Zahlen ermittelt werden. Die kennt hier kein Mensch am Tag vor der Veröffentlichung. Wir setzen uns an diesem Tag um 8 Uhr morgens zusammen und jede Abteilung hat einen isolierten Unterwert, aus dem der Gesamtwert ermittelt wird. Dazu machen wir in dieser Sitzung den Text und um 10 Uhr wird er veröffentlicht. Vorher verläßt keiner den Raum.

Herzlichen Dank für das Gespräch.