Athen wünscht sich Schuldenschnitt. "Griechenland muss die Eurozone verlassen"

Interview mit Hans-Werner Sinn, www.n-tv.de, 13.01.2015

Selbst ein neuer Schuldenschnitt kann Griechenland nicht dauerhaft retten, sagt Ifo-Chef Hans-Werner Sinn. Das Land müsse außerdem die Eurozone verlassen. Auch für den deutschen Steuerzahler wäre das die bessere Lösung. Mit dem Ökonomen sprach n-tv.de über die Schulden in der Eurozone, griechische Chancen und den amerikanischen Bürgerkrieg. Interview von Jan Gänger.

n-tv.de: Steht Griechenland vor einem Schuldenschnitt?

Hans-Werner Sinn: Ja. Wir kennen das schon. Griechenland hat 2012 zwei große Schuldenschnitte gehabt - einen privaten im Volumen von 107 Milliarden Euro und einen staatlichen im Volumen von 43 Milliarden Euro. Das war die bislang größte Staatspleite in der Geschichte. Dennoch ist Griechenland nicht in der Lage, seinen Lebensstandard allein zu finanzieren. Die Wirtschaft ist nicht wettbewerbsfähig, weil die Löhne zu hoch sind. Griechenland hat sich daran gewöhnt, auf Pump zu leben. Deswegen haben sich die Staatsschulden innerhalb von nur drei Jahren wiederum auf ein Niveau angehäuft, dass sie zum Teil erlassen werden müssen. Und so wird das Spiel wohl immer weitergehen.

Das heißt: Auch mit einem Schuldenschnitt ist das Problem nicht gelöst?

Nein. Wir werden in wenigen Jahren wieder an dem Punkt sein. Es sei denn, Griechenland verlässt die Eurozone, denn nur durch einen Austritt und eine Abwertung seiner Währung kann das Land wieder wettbewerbsfähig werden und sich selbst versorgen.

Ende September beliefen sich die Staatsschulden Griechenlands auf knapp 322 Mrd. Euro und damit auf 179 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wie hoch könnte ein Schuldenschnitt ausfallen?

Wahrscheinlich wird ein Schuldenstand von 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angestrebt, denn das ist die Langfristplanung des Internationalen Währungsfonds. Sie sehen an diesen Zahlen, wie sinnlos die ganze Rettungsarchitektur war. Je mehr Kredite fließen, an die man sich gewöhnt, desto höher ist der Bedarf an neuen Krediten.

Für den Steuerzahler würde das teuer werden.

Der deutsche Steuerzahler steht insgesamt für etwa 76 Milliarden Euro gerade - unabhängig davon, ob Griechenland im Euro verbleibt oder nicht. Ein Verbleib Griechenlands in der Eurozone wäre allerdings wohl auf die Dauer noch teurer als ein Austritt. Da Griechenland nicht wettbewerbsfähig ist, wird es immer wieder neue Schulden aufbauen, die man dem Land anschließend erlassen muss. Daraus gibt es nur einen Weg, um Griechenland zu sanieren: Es muss wettbewerbsfähig werden. Dann wird die Wirtschaft auch wieder wachsen. Und das gelingt durch die Abwertung der Währung. Deshalb muss man den Schuldenschnitt mit Griechenlands Austritt aus der Eurozone verbinden.

Griechenland wird als Mitglied der Eurozone nicht auf die Beine kommen?

Es gibt es zwei Wege, billiger zu werden. Griechenland kann im Euro-Verbund bleiben und die Löhne und Preise weiter senken. Das würde die soziale Lage aber verschärfen. Gewerkschaften stellen sich quer, und die Schuldner werden in die Pleite getrieben. Die andere Möglichkeit ist der Austritt und die Abwertung der Währung. Die Lohnsenkung ist dann für alle gleichmäßig, und die lokalen Dienstleistungen werden mit den Löhnen billiger, was den Realeinkommensverlust begrenzt. Außerdem können die Schuldner ihre inländischen Schulden weiterhin bedienen. Die Auslandsschulden bleiben aber so oder so ein Problem, egal ob man abwertet, indem die Löhne und Preise fallen oder indem man austritt. Deshalb muss man Griechenland einen Teil seiner Schulden erlassen.

Nehmen wir an, die neue Drachme würde um 50 Prozent gegenüber Euro und Dollar abwerten. Dann müsste Griechenland doppelt so viel für Importe zahlen. Würde das nicht zu einer massiven Inflation führen?

Die Importgüter würden teurer. Das würde eine Verminderung des Lebensstandards der Griechen bedeuten. Das ist aber unerlässlich, weil das Land über seine Verhältnisse lebt. Andererseits entstehen dann viele Arbeitsplätze, weil mehr heimische Produkte und weniger teure Importgüter gekauft werden. Griechenland importiert unter dem Strich mehr Agrarprodukte als es exportiert. Wenn die Einfuhren teurer werden, dann kaufen Griechen wieder Produkte ihrer Landwirte. Auch als Urlaubsland wird Griechenland attraktiver. Dazu kommt, dass niedrige Löhne und günstige Grundstücke Investoren anlocken. Die Arbeitslosenquote liegt bei 25 Prozent und damit doppelt so hoch wie im Mai 2010, als die ersten Rettungspakete geschnürt wurden. Die Jugendarbeitslosenquote beträgt rund 50 Prozent. Das sind unerträgliche Verhältnisse.

Bedeutet ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone nicht auch zwangsläufig einen Austritt aus der Europäischen Union, und würde das nicht ein politisches Erdbeben auslösen?

Jeder Vertrag ist kündbar. Ich habe mehrere Vorträge von Verfassungsjuristen dazu gehört. Griechenland kann aus der Eurozone ausscheiden, ohne die EU zu verlassen.

Aber kann das nicht zu Erschütterungen an den Finanzmärkten führen - mit unkalkulierbaren Risiken?

Das ist in der Tat ein potenzielles Risiko. Es ist aber nicht mehr so groß wie früher. Die Eurozone hat jetzt Instrumente, um Länder zu schützen. Im Übrigen muss man ein anderes Risiko sehen, das viel größer ist als die möglichen Erschütterungen an den Finanzmärkten. Ich rede von dem Risiko, dass Europa in eine Schulden- und Transferunion abgleitet. Wenn Griechenland mit immer neuen Krediten versorgt wird, macht das Schule. Dann wollen auch andere südeuropäische Länder auf diese Weise finanziert werden. So kommen wir in eine Transferunion mit einem Finanzausgleich - ähnlich wie wir das in Deutschland haben. Das wäre sehr teuer für die Länder Nordeuropas, wenn 60 Prozent der Bevölkerung der Eurozone die anderen 40 Prozent finanzieren müssen.

Aber macht ein Schuldenschnitt nicht auch Schule und setzt die falschen Anreize? Denn dann können ja auch andere Länder verlangen, ihnen die Schulden zu erlassen.

Ja, natürlich machen sie das dann. Aber es gibt ja auch eine Kehrseite. Künftig würden die Gläubiger diese Länder nicht mehr ohne weiteres finanzieren und sich vorsehen. Damit würde der exzessiven Verschuldung ein Riegel vorgeschoben. Die Gläubigerhaftung ist von elementarer Bedeutung für die Stabilität von Föderationen.

Inwiefern?

Es gibt zwei Modelle. Das eine Modell besteht darin, dass die Schulden vergemeinschaftet werden. Das drückt die Zinsen, Gläubiger stellen nach Belieben Kredite zur Verfügung, die Schulden explodieren. Das andere Modell ist das Konkursmodell. Hier gehen die überschuldeten Länder pleite, die Gläubiger sehen ihr Geld nicht wieder. Und weil sie sich die Finger verbrannt haben, passen sie künftig besser auf.

Die USA haben dieses zweite Modell seit dem Bürgerkrieg. Vorher gab es dort das Sozialisierungsmodell. Die Folge war eine Schuldenlawine, die zwischen 1837 und 1842 neun von 29 Staaten in den Konkurs trieb. Der US-Historiker Harold James sieht darin eine Ursache, die die Spannungen verstärkte, die wegen der Sklavenfrage zum Bürgerkrieg geführt haben.

Aber Europas Krisenstaaten können doch höhere Zinsen überhaupt nicht gebrauchen. Das würde es ihnen noch schwerer machen, die Krise zu überwinden.

Es veranlasst sie, sich nicht weiter übermäßig zu verschulden. Europa versinkt in einer Schuldenlawine, weil das Schuldenmachen immer der einfachere Weg ist - zu Lasten künftiger Generationen bzw. zu Lasten der Steuerzahler der noch gesunden Länder. Wird dieses Schuldenmachen unterstützt durch gegenseitiges Bürgen, dann findet das kein Ende. Diese Schuldenlawine kann ganz Europa zerstören.