"Eine Katastrophe für den Arbeitsmarkt"

ifo Präsident Hans-Werner Sinn warnt vor Rückschlag durch gesetzlichen Mindestlohn
Nordwest-Zeitung, 28.12.2013, Nr. 302, S. 29

Die Konjunktur wird an Dynamik gewinnen. Das erwartet Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung (München), im Interview.

VON DIETER W. HEUMANN

Herr Professor Sinn, der Koalitionsvertrag trägt den Titel "Deutschlands Zukunft gestalten". Wird der Vertrag dem gerecht? Dieser Optimismus entspricht einer Selbsteinschätzung, die nicht von allen geteilt wird. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung etwa spricht von einer rückwärtsgewandten Wirtschaftspolitik.

Welche Punkte sehen Sie besonders kritisch?
Mit Abstand den Mindestlohn, denn mit seiner Einführung wird sich ein Paradigmenwechsel in der deutschen Wirtschaftsgeschichte vollziehen. Der Mindestlohn wird sich als Katastrophe für den deutschen Arbeitsmarkt erweisen.

Aus welchem Grund?

Wir werden zukünftig von Wahl zu Wahl immer wieder neue politisch motivierte Gebote für den Mindestlohn bekommen. Der Mindestlohn wird einen Regimewechsel hierzulande vollziehen: Der Staat mischt sich in die Lohnbildung ein. Das ist in einer Marktwirtschaft nicht seine Aufgabe, sondern die der Tarifpartner. Der Mindestlohn wird die Agenda 2010 rückgängig machen und uns in die Zeit vor der Kanzlerschaft Gerhard Schröders zurückwerfen - als Deutschland der kranke Mann Europas war.

Wieviel Prozent der Arbeitnehmer hierzulande werden vom Mindestlohn betroffen sein?

Nach dem soziökonomischen Panel bedeutet ein Mindestlohn von 8,50 Euro, dass 18 Prozent der westdeutschen und 26 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmer betroffen sein werden. Ein solcher Mindestlohn wird vor allem in den neuen Bundesländern zu einer umfangreichen Zerstörung von Arbeitsplätzen für gering Qualifizierte führen. Er wird aber wegen der Lohnabstände auch bewirken, dass das allgemeine Lohnniveau anzieht.

Aber ist es nicht das Anliegen einiger Politiker, die Agenda 2010 zurückzuschrauben, um die Arbeitswelt gerechter zu gestalten?

Wie gesagt, mit dem Mindestlohn wird die Agenda 2010 rückabgewickelt Immerhin wurden durch die Reformen am Arbeitsmarkt seinerzeit mehr als zwei Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, da damals der "Mindestlohn", den ein Unternehmen bieten musste, um mit dem Sozialstaat konkurrieren zu können, gesenkt wurde. Das hat die gesamte Lohnskala ins Rutschen gebracht und die Preise in Deutschland gesenkt. Dadurch ist die Wettbewerbsfahigkeit der deutschen Wrrtschaft im Euroraum maßgeblich gestärkt worden. Die Arbeitslosigkeit ging, nachdem sie zuvor 35 Jahre gestiegen war, dramatisch zurück. Diesen Erfolg der deutschen Mindestlohnsenkung kann niemand bestreiten. Das verblüffende dabei ist, dass die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen in Deutschland nicht etwa gestiegen, sondern deutlich gesunken ist. Außerdem hat der Staat pro Jahr etwa 35 Milliarden Euro gespart. Ein Erfolg auf der ganzen Linie.

Und Sie sehen diesen Erfolg jetzt in Gefahr?

Ja, aber die Folgen werden nicht schon sämtlich in der nächsten Legislaturperiode zu beobachten sein. Die negativen Effekte werden über einen längeren Zeitraum eintreten. Betroffen sein werden alle Wirtschaftszweige, weil sich die gesamte Lohnskala nach oben verschiebt - was unweigerlich auch die Preise erhöht. Deutschland gibt seine mühsam errungene Wettbewerbsfähigkeit wieder auf.

Also gewissermaßen eine reale Aufwertung Deutschlands. Aber ist die nicht erforderlich, um insbesondere die Südstaaten des Euroraums wettbewerbsfähiger zu machen?

Ja, aber es gibt zwei Möglichkeiten, wie man eine reale Aufwertung herbeiführen kann: Zum einen, durch einen kostengetriebenen Preisscbub, den ich. befürchte, oder aber durch Preissteigerungen, hervorgerufen durch einen nachfragegetriebenen Boom in Deutschland. Der Mindestlohn führt zur Inflation und zur Stagnation, also zu der Sorte von Stagflation, die wir in den 1970ger Jahren hatten. Ich erinnere an die Ölkrisen. Eine Stagnation hierzulande aber würde den europäischen Partnern nicht helfen: Ein wirtschaftlich stagnierendes Deutschland kauft keine Güter bei den Europartnern.

Welche wichtigen Themen vermissen Sie im Koalitionsvertrag?

Vor allem das Thema Euro. Hierzu werden im Koalitionsvertrag keinerlei Perspektiven vermittelt, obwohl der Euroraum nicht funktioniert: So haben wir zum Beispiel in Südeuropa eine Massenarbeitslosigkeit, die kaum noch beherrschbar ist. Hierzu verlangen die Menschen endlich Antworten. Griechenland, Spanien und andere Länder sind seit langem in einer großen Krise- Italien und Frankreich drohen wirtschaftlich abzurutschen. Bei den beiden großen Ländern aber kann man die zunehmend fehlende Wettbewerbsfahigkeit nicht durch Geld ausgleichen, wie dies im Falle der kleineren versucht wird. Dazu fehlen die Mittel.

Was ist zu tun, wobei auch die Bundesregierung maßgeblich gefordert wäre?

Ich plädiere dafür, den Euro künftig als atmende Währung aufzustellen. Kurzum, es bedarf einer Währungsunion, in die Länder eintreten, aus der sie aber auch wieder geordnet austreten können, wenn sie für die Union aufgrund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit zu einem Problem geworden sind. Das Problem wird  zunehmend drängender und muss angegangen werden.

Ihre Konjunkturprognose für Deutschland?

Der ifo Konjunkturindex hat sich - nach einer Schwächephase im letzten Winter und Frühjahr - wieder kräftig erholt. Der deutschen Wirtschaft geht es prächtig, und wir erwarten, dass das BIP 2014 wieder deutlicher um etwa 1,5 bis 2 Prozent - zunehmen wird. Kurzfristig hat der Finanzminister daher auch sicherlich recht, wenn er auf eine gute Konjunktur und als Folge auf eine weiterhin positive Einnahmenentwicklung für den Staat setzt. Aber die im Koalitionsvertrag  ausgesprochenen Forderungen bedürfen der längerfristigen Finanzierung.

Die EZB hat den Leitzins jüngst ein weiteres Mal um 0,25 Punkte auf 0,25 Prozent gesenkt. Ein erfolgreicher Schritt?

Der Schritt ist falsch, weil er die Rolle des Kapitalmarktes unterhöhlt und die deutschen Sparer benachteiligt. Deutsche Banken haben davon nichts, weil sie keine Kredite mehr von der Bundesbank beziehen. Die Vorteile liegen bei den Banken Südeuropas, die sich in riesigem Umfang bei der EZB verschuldet haben. Sie werden nun mit Zinsgeschenken der EZB aufgepäppelt, die zu Lasten der deutschen Steuerzahler gehen, die ja die größten Aktionäre der EZB sind und Anspruch auf deren Zinseinnahmenhaben.

Zu den Verlierern gehören auch die Sparer...

Ja, wir erleben in Deutschland bereits die Enteignung der Sparer. Die Kapitalsammelstellen - also Banken und Lebensversicherungen - erhalten aufgrund der Niedrigzinspolitik der EZB keinen ausreichenden Ertrag mehr für das Geld, das ihnen die Sparer anvertrauen. Folglich können sie auch dem Sparer nur einen Zins bieten, der - will man keine exorbitanten Risiken wagen - nicht einmal mehr die Inflationsrate auffängt.

Und die Börse, geht es weiter aufwärts?

Die hoch verschuldeten Länder, die an Niedrigstzinsen ein existenzielles Interesse haben, werden sich auch in Zukunft durchsetzen, da sie klar in der Mehrheit im EZB Rat sind. Das sollte die deutschen Börsenkurse - unter Schwankungen - hoch halten. Aber für den Aktionär empfiehlt sich immer auch ein Blick zur "Leitbörse" Wallstreet, von der wir uns nicht ganz befreien können.