"Stich ins Herz"

Interview mit Hans-Werner Sinn und Marcel Fratzscher, Der Spiegel, 18.11.2013, Ausgabe 47/2013, S. 74-76

SPIEGEL: Herr Fratzscher, Herr Sinn, die Europäische Zentralbank hat den Leitzins auf 0,25 Prozent gesenkt, so billig war Geld in Europa noch nie. Ein Grund zur Freude?

Sinn: Das Problem ist das Ausmaß der EZB-Kredite. Die Zentralbank hat die südeuropäischen Länder für über 700 Milliarden Euro mit verbilligten Sonderkrediten versorgt. Sie unterhält eine riesige fiskalische Rettungsmaschinerie. Damit hat sie ihre Kompetenzen überschritten.

Fratzscher: Das sehe ich ganz anders. Die EZB muss die Wirtschaft mit Liquidität versorgen, damit die Verbraucher einkaufen und die Unternehmen investieren können. Das geschieht aber derzeit nicht ausreichend, weil die Kredite in vielen Ländern der Euro-Zone zu teuer und zu knapp sind. Genau das will die EZB ändern, und deshalb ist die Entscheidung richtig, die Zinsen zu senken.

SPIEGEL: In Deutschland sind die Zinsen jetzt so niedrig, dass sie nicht einmal mehr die steigenden Preise ausgleichen. Die Sparguthaben verlieren dadurch an Wert - ein Fall von schleichender Enteignung?

Fratzscher: Es stimmt, dass Geldanleger heute nur eine geringe Rendite bekommen. Aber es gibt Alternativen. Mit Aktien und Immobilien zum Beispiel lässt sich derzeit in Deutschland ganz gut Geld verdienen. Und wenn die Konjunktur in Südeuropa wieder Tritt fasst, haben auch die deutschen Sparer etwas davon, denn Wachstum und Einkommen werden dann auch in Deutschland gestärkt.

Sinn: Über sinkende Zinsen freut sich der Schuldner. Deutschland ist aber ein Nettogläubiger anderer Länder. Zwischen 2008 und 2012 haben die Rettungsaktionen Deutschland mehr als 200 Milliarden Euro an Zinsverlusten gebracht.

Fratzscher: Wie bitte? Wie kommen Sie auf diese Zahl?

Sinn: Unsere Exportüberschüsse wurden überwiegend nicht mehr angelegt, sondern zu drei Vierteln mit Euro bezahlt, die sich die anderen Länder von ihren eigenen Zentralbanken geliehen haben. Das grenzt an Enteignung. Wenn wir unsere Exportüberschüsse zu den Zinsen von 2007 hätten anlegen können, wären wir heute um 200 Milliarden Euro reicher.

Fratzscher: Die Zinsen sind doch nicht künstlich wegen der Rettungspolitik gesenkt worden, sondern weil wir uns 2007 in einem Boom befanden und mittlerweile ganz Europa in eine schwere Krise geraten ist. Der EZB ist es gelungen, die Wirtschaft von der Klippe zu ziehen. Ihr ist es zu verdanken, dass es in Südeuropa wieder Licht am Ende des Tunnels gibt.

Sinn: Ich sehe kein Licht.

Fratzscher: Ohne sinkende Zinsen wäre die Konjunktur noch viel stärker eingebrochen. Spielen wir die Sache doch mal durch: Höhere Zinsen bedeuten weniger Kredite; weniger Kredite heißt weniger Wachstum; weniger Wachstum führt zu weniger Beschäftigung, zu mehr Pleiten, zu einer tieferen Rezession. Dies setzt die Staatsfinanzen unter Druck und schwächt die Banken, die wiederum noch weniger Kredite vergeben. So macht man aus einer Liquiditätskrise eine Solvenzkrise, ein Teufelskreis, von dem auch wir in Deutschland betroffen wären. Ihr Szenario, Herr Sinn, bedeutete für uns also keinen Gewinn, sondern riesige Kosten.

Sinn: Der Euro hat in Südeuropa eine inflationäre Kreditblase erzeugt, und als diese platzte, hat die Politik der EZB verhindert, dass die betroffenen Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Südeuropa siecht nun dahin. Die Arbeitslosigkeit in Spanien und Griechenland geht gegen 30 Prozent, bei den Jugendlichen sind sogar bis zu 60 Prozent auf Jobsuche. Die Industrie schmiert ab.

Fratzscher: Wer dem Euro die Schuld an der Krise gibt, könnte genauso gut den Polizisten dafür verantwortlich machen, wenn es irgendwo einen Einbruch gegeben hat. Das Gegenteil ist richtig: Der Euro hat es seit 1999 allen Mitgliedsländern ermöglicht, günstiger an Kredite zu kommen, mehr zu investieren und damit mehr Wohlstand zu schaffen. Diese Chance wurde häufig nicht genutzt, aber die Schuld dafür liegt nicht beim Euro.

SPIEGEL: Die Euro-Krise hat sich entspannt, nachdem EZB-Präsident Mario Draghi vor gut einem Jahr angekündigt hat, im Notfall unbegrenzt Staatsanleihen europäischer Krisenländer aufzukaufen. War das gut?

Sinn: Für die Kapitalanleger ja, für die Steuerzahler nein. Durch Fehlinvestitionen wurde Sparkapital in großem Stil in Südeuropa verbrannt. Deshalb wollen die Anleger nicht mehr dorthin. Die EZB aber möchte, dass weiter Kapital gen Süden fließt, deshalb verlagert sie die Druckerpresse nach Südeuropa. Außerdem gibt sie den Käufern südlicher Staatspapiere kostenlosen Versicherungsschutz zu Lasten der Steuerzahler. Das ist eine Investitionslenkung, die mit Marktwirtschaft nicht mehr viel zu tun hat.

Fratzscher: Die EZB lenkt kein Kapital. Es waren wir Deutsche, die erst ihr Geld weltweit investiert und teilweise verbrannt und es dann aus Südeuropa abgezogen haben. Nun gibt es dort eine riesige Liquiditätslücke, und die EZB tut, wozu sie verpflichtet ist: Sie versorgt die südeuropäischen Banken mit Geld und verhindert, dass aus einer Liquiditätskrise eine Solvenzkrise wird.

Sinn: Und das Risiko trägt der Steuerzahler als Eigentümer der EZB.

Fratzscher: Die EZB hat die Risiken in Europa nicht erhöht, sondern gesenkt. Sie hat die Gefahr gebannt, dass Europas Wirtschaft noch tiefer in die Rezession rutscht. Dadurch ist auch der Finanzsektor nicht mehr so stark gefährdet. Die Gefahr, dass bei einem Euro-Crash Vermögenswerte in Billionenhöhe, darunter auch die deutscher Bürger, vernichtet werden, ist kleiner geworden. Deshalb kehrt auch das Kapital langsam wieder nach Europa zurück. Wir sehen: Es ist besser, eine Insolvenz zu vermeiden, anstatt voreilig eine Pleite herbeizuführen.

Sinn: Noch schlimmer ist die Insolvenzverschleppung.

Fratzscher: Von welcher Insolvenz reden Sie?

Sinn: Von der Insolvenz einzelner Staaten und vieler Banken Südeuropas. Je früher man die Insolvenz feststellt, desto geringer werden die Lasten für die Steuerzahler, und desto eher ist es möglich, einen Neustart zu machen.

Fratzscher: Neustart? Wir würden ein Szenario erleben, das mit der Großen Depression Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts vergleichbar wäre. Gut, dass wir so etwas bisher haben verhindern können.

SPIEGEL: Herr Sinn, hielten Sie es für richtig, wenn einige Länder den Euro wieder abschaffen und zur eigenen Währung zurückkehren würden?

Sinn: Ja. Griechenland, Spanien und Portugal sind so nicht wettbewerbsfähig, sie müssten 30 Prozent billiger werden. Aber solange sie im Euro sind, ist das nicht möglich, ohne die Gesellschaftssysteme massiv zu schädigen. Der Austritt aus dem Euro, verbunden mit einem Schuldenschnitt für Banken und Staaten, würde den Ländern die Möglichkeit geben, wettbewerbsfähig zu werden und ihre Auslandsschulden zurückzuzahlen.

Fratzscher: Ich teile Ihre Analyse nicht, und die Märkte teilen sie auch nicht. Die Staaten in Südeuropa sind nicht pleite. Weder Spanien noch Portugal und auch nicht Italien, obwohl alle unbestreitbar unter einer Rezession leiden und sich reformieren müssen. Und deshalb ist es richtig, was die Europäische Zentralbank mit ihrer Geldpolitik macht: Sie verschafft diesen Ländern Zeit, damit sie die nötigen Reformen angehen können. Wir sehen ja auch, dass die Krisenländer nicht aus dem Euro austreten wollen. Sogar die Griechen wollen bleiben.

Sinn: Weil sie den Zugang zur Druckerpresse für Euro-Geld nicht verlieren wollen.

Fratzscher: Griechenland ist ein Sonderfall, aber die anderen Länder sind auf einem guten Weg. Irland hat gezeigt, dass man harte Reformen machen und seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern kann, ohne den Euro aufzugeben. Spanien und Portugal brauchen Zeit, werden es aber schaffen. Wir sollten nicht vergessen, dass Deutschland vor zehn Jahren als der kranke Mann Europas galt. Bei uns hat es auch fünf, sechs Jahre gedauert, bis wir mithalten konnten. Es ist wichtig, dass sich Europa jetzt hilfsbereit zeigt.

Sinn: Wir haben viel geholfen und verlieren nun Zeit. Die Hilfen sind irrsinnig teuer und verzögern die Selbsthilfe. Irland hat reformiert, weil es früher in die Krise geriet und anfangs keine Hilfe bekam.

SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?

Sinn: Wir brauchen härtere private und öffentliche Budgetbeschränkungen. Ein Land, das damit nicht zurechtkommt, sollte Hilfen zum Austritt erhalten. Wir sollten die Euro-Zone als atmende Währungsunion konstruieren, mit geregelten Ein- und Austrittsmöglichkeiten. Ein Austritt bedeutet ja nicht den Weltuntergang. Man kann ja auch wieder eintreten, wenn sich die Lage gebessert hat.

Fratzscher: Sagen Sie mal den Arbeitslosen in den Krisenländern, dass es kein Weltuntergang wäre, wenn noch mehr Menschen ihre Existenzgrundlage verlören. Ihr Vorschlag hätte aus meiner Sicht nur Nachteile. Wir hätten, wie früher, wieder Wechselkurskrisen in Europa. Die Kosten wären immens. Gerade wir Deutschen sollten froh sein, dass das Wechselkursrisiko mit dem Euro verschwunden ist.

SPIEGEL: Was schlagen Sie stattdessen vor?

Fratzscher: Wir brauchen, da hat Herr Sinn recht, klare Regeln im Umgang mit Pleitebanken und mehr Haushaltsdisziplin bei den Staaten. Deshalb bin ich für stärkere europäische Institutionen, etwa einen autonomeren Rettungsschirm ESM, der Staaten, die die Vorgaben nicht einhalten, disziplinieren kann. Und wir brauchen eine europäische Regierung, die die gemeinsamen Regeln durchsetzen kann.

SPIEGEL: Hat Deutschland vom Euro bislang profitiert?

Fratzscher: Ja. Wir sind die großen Nutznießer. Durch den Euro ist auch der Handel, der Binnenmarkt stärker zusammengewachsen, was den deutschen Unternehmen sehr hilft. Wir stehen heute besser da als alle anderen Europäer, weil wir wie kein zweites Land von der Offenheit profitiert haben.

Sinn: Deutschland ist kein Euro-Gewinner. 1995, als der Euro endgültig beschlossen wurde, waren wir mit unserer Wirtschaftskraft pro Kopf auf Platz zwei der heutigen Euro-Länder. Heute sind wir trotz des Booms der letzten drei Jahre auf Platz sieben. Wir haben lange darunter gelitten, dass das Kapital aus Deutschland Richtung Südeuropa abfloss. Wir hatten eine Massenarbeitslosigkeit und mussten harte Reformen machen.

SPIEGEL: Wäre es dann nicht besser, Deutschland würde aus dem Euro austreten?

Sinn: Nein. Nicht jede unglückliche Ehe muss geschieden werden. Wir würden dann all unsere öffentlichen und privaten Kreditforderungen gefährden oder verlieren. Wir sollten den Euro reparieren, aber nicht abschaffen.

Fratzscher: Ich würde uns Europäer eher als Geschwister sehen. Den Ehepartner kann man sich aussuchen, die Geschwister nicht. Wir Europäer müssen unsere Zukunft miteinander gestalten und dürfen dabei unsere Vergangenheit nicht vergessen. Wir werden immer die engsten Handelspartner sein. Der Euro hatte Geburtsfehler, keine Frage. Aber wir sollten ihn nicht abschaffen, sondern die Geburtsfehler beheben.

Sinn: Die Europäische Union hat sich bewährt als Freihandelszone und auch als Friedensordnung. Doch der Euro gefährdet das Erreichte. Die Hakenkreuzfahnen, die in Südeuropa bei manchen Demonstrationen gegen Deutschland geschwungen werden, sind ein Stich ins Herz. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Polen oder die Tschechische Republik oder auch Schweden oder England auf absehbare Zeit diesem Euro-Verbund beitreten. So, wie der Euro heute konstruiert ist, spaltet er nur.

SPIEGEL: Lässt er sich denn reparieren?

Sinn: Ja, aber ich bin nicht sehr optimistisch, dass es genug Einsicht bei der Politik gibt.

Fratzscher: Ich bin optimistisch. Wir werden in zehn Jahren mehr Länder in der Euro-Zone haben als heute. Der Euro wird stabiler sein, als er heute ist. Wir werden wichtige Lehren aus der Krise gezogen haben. In zehn Jahren wird die Welt auf uns schauen und sagen: Respekt, wie ihr es hingekriegt habt.

SPIEGEL: Herr Fratzscher, Herr Sinn, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Die Gegenspieler

Wer nach einem ökonomischen Urteil zur Euro-Krise sucht, kommt an den Chefs der beiden renommierten deutschen Denkfabriken nicht vorbei. Sinn, 65, leitet seit fast 15 Jahren das Münchner Ifo-Institut. Er unterstützte die Klage gegen den Rettungsschirm ESM vor dem Verfassungsgericht. Volkswirt Fratzscher, 42, arbeitete bis 2012 in der Europäischen Zentralbank. Seit Jahresanfang führt er das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin; vor wenigen Wochen beteiligte er sich an einem Aufruf für eine engere politische Union Europas.

"Je früher man die Insolvenz feststellt, desto eher ist es möglich, einen Neustart zu machen."

"In zehn Jahren wird die Welt auf uns schauen und sagen: Respekt, wie ihr es hingekriegt habt."

Das Gespräch moderierten die Redakteure Alexander Neubacher und Michael Sauga im Hauptstadtbüro des SPIEGEL.

SPIEGEL  47/2013