Ich fand das Autochen so süß

Presseinterview mit Hans-Werner Sinn und Gerlinde Sinn, Süddeutsche Zeitung Nr. 210, 12./13.09.2015, S. 28.

Interview von Marc Beise und Ulrich Schäfer

Mit seiner Frau Gerlinde suchte Hans-Werner Sinn in Jugoslawien mal den dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Später sind die beiden ein paar Jahre Trabi gefahren und haben ein Buch über den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft geschrieben. Nun ziehen sie nach 25 Jahren Bilanz.

Deutschlands bekanntester Ökonom und seine Frau rollen in einer dunklen Limousine vor dem Hochhaus der Süddeutschen Zeitung vor. Hans-Werner Sinn und Gerlinde Sinn haben sich beim Studium der Volkswirtschaftslehre in Münster kennengelernt und vor knapp einem Vierteljahrhundert gemeinsam ein Buchverfasst: „Kaltstart". Es ist der einzige Bestseller, den Hans-Werner Sinn, der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, nicht allein geschrieben hat; das Buch gilt bis heute als die wohl beste Analyse über den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft. Als die beiden aussteigen, steht auf dem Vorplatz ein Trabi.

Hans-Werner Sinn: (läuft zum Trabi). Großartig! Wo haben Sie den denn her?

SZ: Den haben wir fürs Foto beim Bayerischen Trabant-Club organisiert.

Hans-Werner Sinn: Wir sind auch ein paar Jahre mit einem Trabi gefahren.

Das wussten wir gar nicht. Wie kam's dazu?

Hans-Werner Sinn: Den haben wir uns damals bei einem Autovermieter im Münchner Westen ausgeliehen, weil wir ein griffiges Titelbild für unser Buch haben wollten.

Gerlinde Sinn: Das Foto für das Buchcover haben wir bei uns im verschneiten Garten in Gauting gemacht: mit dem gletscherblauen Trabi, einem Überbrückungskabel und einem Mercedes. Das passte perfekt zum Titel „Kaltstart".

Hans-Werner Sinn: Ich fand das Autochen so süß, da habe ich beim Zurückgeben gefragt, ob es zu kaufen ist. Für 1000 Mark gehörte es dann uns.

War das damals Ihr Erstauto?

Gerlinde Sinn: Nein, unser Zweitauto. Ich bin am Anfang auch ein paar Mal stehen geblieben, weil es einen Hahn gibt, mit dem man per Hand Benzin geben muss; das war ich nicht gewohnt.

Hans-Werner Sinn: Ab und zu mussten wir den Wagen auch selber reparieren. Dann haben wir bei einem Versand in Zwickau Ersatzteile bestellt, die hatten immer ganz krumme Preise, 8,47 D-Mark und 4,53 D-Mark. Und die haben wir dann selber eingebaut.

Warum haben Sie Ihr Buch denn „Kaltstart" genannt?

Gerlinde Sinn: Wir dachten an Sibirien, Russland, DDR, den Neuanfang. Wie kriegt man den Motor zum Laufen?

Wer hatte die Idee für diesen Titel?

(Pause)

Hans-Werner Sinn: Wir haben vermutlich beide das Gefühl, das er uns eingefallen ist.

Frau Sinn?

Gerlinde Sinn: (lächelt)

Und die Idee für das Buch insgesamt: Ganz ehrlich - wer hatte die?

(Pause)

Das ist jetzt ein langes Schweigen.

Hans-Werner Sinn (zögernd): Die Idee ist jedenfalls in Amerika entstanden. Wir waren 1990 gemeinsam in Kalifornien, an der Universität Stanford, und da begann das ...

Gerlinde Sinn: .. . nein, nein, Hans-Werner, das war ein bisschen anders. Du warst zuerst da, als Gastprofessor, ich kam wegen der kleinen Kinder erst später rüber, und warst in Stanford permanent der Frage ausgesetzt: Was passiert da in Deutschland? Ich habe Informationen gesammelt, alles was ich finden konnte, und dir per Fax geschickt, wochenlang. Vielleicht war das der Grund, dass wir das Buch zusammen publiziert haben, ich hatte den Eindruck, da auch ganz tief drin zu stecken.

Hans-Werner Sinn: Es gab damals einen großen Enthusiasmus bei den Amerikanern. Ich hatte in meinem Leben noch nie so viele Deutschlandflaggen gesehen. Die waren überall in den Straßen, die Häuser waren geschmückt, die Clubs. Ich durfte dann vor dem Direktorium der Stanford University im Silicon Valley über das berichten, was da in Europa passiert ...

... und auch beim Sachverständigenrat des US-Präsidenten.

Hans-Werner Sinn: Ja, da saßen Leute wie Paul Samuelson ...

. . . der erste amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger

Hans-Werner Sinn: . . . Samuelson kam auf Puerto Rico zu sprechen, wo die Amerikaner ein Lohnniveau wie in den USA durchgesetzt haben, bei einer minimalen Produktivität. Entsprechend gibt es 50 Prozent Arbeitslosigkeit. Das hatte er im Sinn, als er mich fragte: Wie soll das in der DDR mit den Löhnen gehen?

Was war Ihre Antwort?

Hans-Werner Sinn: Gleiche Löhne wie im Westen gehen nicht. Die Löhne dürfen nur so hoch sein wie die Produktivität. Aber es gab noch ein anderes, für mich zunächst überraschendes Thema: die Privatisierung.

Gerlinde Sinn: Albert O. Hirschman hat dich dazu gefragt ...

... der berühmte Soziologe in Princeton ...

Hans-Werner Sinn: Ja, der war in der Weimarer Republik Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend SAJ, bevor er vor den Nazis floh. Der fragte mich: Was ist jetzt mit den deutschen Junkern? Kriegen die ihr Land zurück? Ich hatte nichts Sinnvolles zu sagen, das Thema war noch gar nicht aufgetaucht. Diese beiden Fragen haben das Buch sehr beeinflusst.

Wie haben Sie beide denn die Maueröffnung erlebt?

Gerlinde Sinn: Zu Hause in München, am Fernseher. Aber wir waren dann bald in Berlin. Da haben wir dieses Foto gemacht, ich gucke zu dir rüber durch ein Loch in der Mauer ...

Hans-Werner Sinn: Ja, das ist ein Foto! Ich bin in die DDR reingestiegen, um dich zu fotografieren.

Gerlinde Sinn: Nein, umgekehrt, ich war reingestiegen.

Wie auch immer: Einer von Ihnen hat ja auch schon den Mauerbau live erlebt, schreiben Sie im Buch.

Hans-Werner Sinn: Das war ich. Ich war mit meinen Eltern in Berlin, bei Großtante Lieschen im Osten. Wir sind am 12. August 1961 durchs Brandenburger Tor gefahren, nachmittags wollten wir zurück, da war das Tor schon zu, überall lag der gerollte Stacheldraht. Deshalb ist eigentlich der 12. der Tag des Mauerbaus, ein Samstag. Nicht der 13. 8., wie es heute immer heißt.

Davon abgesehen sind Sie beide aber eher Wessis, oder?

Hans-Werner Sinn: Meine Frau ist Unterfränkin, ich bin Westfale. Aber meine Mutter kam aus Kolberg. Gerlindes Familie war sudetendeutsch. Ich war häufiger im Osten. Wenn ich die Tanten besucht habe, bin ich in Ost-Berlin in die Theater und Kabaretts gegangen, das Brecht-Theater, die „Distel" und so weiter. Ich war als Jugendlicher sehr politisch interessiert. Die DDR fand ich bedrohlich und faszinierend zugleich.

Gerlinde Sinn: Für mich war die deutsche Teilung auch sehr präsent. Ich bin in Bad Hersfeld aufgewachsen, da war die Zonengrenze nicht weit, mit Gästen fuhr man immer dorthin. Damals hätte ich nie gedacht, dass das mal aufgehoben werden könnte.

Sie haben nicht an die Wiedervereinigung geglaubt?

Hans-Werner Sinn: Damals nicht. Die Fragilität des ostdeutschen Wirtschaftssystems ist uns im Laufe unserer ökonomischen Ausbildung natürlich zunehmend bewusst geworden. Man konnte bei jedem Besuch in der DDR mit Händen greifen, dass die Statistiken geschönt waren. Angeblich war das ja eine führende Wirtschaftsnation der Welt, das war sichtbar Käse.

Gerlinde Sinn: Als Studenten haben wir ja noch den dritten Weg gesucht zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Als Uni-Assistent hat mein Mann sich viel mit Jugoslawien beschäftigt auf der Suche nach einem besseren Wirtschaftssystem.

Hans-Werner Sinn: Ich war dort in den Siebzigerjahren mit einem Seminar, wir haben uns von Arbeitern selbstverwaltete Betriebe angeguckt. Mit dem Zug 36 Stunden nach Sarajewo.

Gerlinde Sinn: Aber man hat schnell gesehen, dass das nicht funktioniert. Die Arbeiter konnten mitbestimmen, aber sie verhinderten, dass neue Arbeiter eingestellt wurden. Das klappt eben nicht, wenn Insider nur sich selbst begünstigen.

Dann müsste Ihnen auch klar gewesen sein, dass die DDR keine Zukunft hatte.

Hans-Werner Sinn: Dass es so bald sein würde, hätten wir nicht gedacht. Wir rechneten mit 20, 30 Jahren später und fürchteten Gewalt. Dass es so glatt ablief, das war ein Wunder - und ein Verdienst Moskaus. Honecker wollte schießen lassen, Gorbatschow hat das verhindert.

Dadurch hatten Sie die Chance, als Wissenschaftler den Bau eines neuen Staates live zu begleiten. Hat Sie das fasziniert?

Hans-Werner Sinn: Es gibt ja zwei Arten von Forschung: Das theoretische Nachdenken über zeit- und raumlose Fragen, da knüpft man an das, was andere gemacht haben, und entwickelt das weiter. Das ist dann mehr eine geisteswissenschaftliche Übung. Oder man arbeitet eher wie ein Sozialwissenschaftler, in der praktischen Welt. Das bot sich damals an: Es passierte etwas, das wichtig war, aber man verstand es nicht und stocherte im Nebel.

Gerlinde Sinn: Wir haben versucht, die Ereignisse auf der Basis der volkswirtschaftlichen Theorie zu verstehen und einzuordnen und Empfehlungen abzugeben.

Die erste wichtige Entscheidung war ja die Währungsumstellung. Dass die DDR-Mark eins zu eins gegen die D-Mark getauscht wurde, galt bald als großer Fehler, der die ostdeutsche Wirtschaft kaputt gemacht hat.

Gerlinde Sinn: Das sehen wir nicht so. Die Währungsumstellung eins zu eins war nötig, damit die Löhne auf einem Niveau waren, der den Lebensstandard der Ostdeutschen erhalten könnte. Aber die Löhne hätte man anfangsunbedingt auf den damit erreichten 30 Prozent des Westniveaus belassen müssen. Mehr war angesichts des maroden Zustands der Wirtschaft nicht drin. Wären die Löhne so geblieben bis zum Abschluss der Privatisierung, dann wäre das ein starkes Argument gewesen für Ausländer, in Ostdeutschland zu investieren. Dann wäre es wirklich zu den blühenden Landschaften gekommen, die Kohl versprochen hat, und die Löhne wären anschließend schneller und weiter gestiegen, als es so der Fall war. Das Vorauseilen der Lohnangleichung war der dramatische Fehler schlechthin.

Wie erklären Sie sich diesen Fehler?

Hans-Werner Sinn: Das haben die westdeutschen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam verbockt, und zwar mit voller Absicht. Die Gewerkschaften wollten keine Konkurrenz für ihre westdeutschen Mitglieder, und die westdeutschen Unternehmen keine Billig-Konkurrenz in ihrem Hinterhof. Wenn die Japaner kommen wollten, dann sollten sie gefälligst die gleichen Löhne wie im Westen bezahlen.

Gerlinde Sinn: Das war wieder wie damals in den arbeiterverwalteten Betrieben in Jugoslawien ein Insider-Problem: Beide Seiten hatten gleichgerichtete Interessen - zu Lasten Dritter.

War es aber nicht so, dass man gleiche Löhne zahlen musste, weil sonst noch mehr Menschen in den Westen abgewandert wären?

Hans-Werner Sinn: Die sind ja sowieso gegangen; wer aber geblieben ist, der wurde wegen der hohen Löhne arbeitslos. Toll! Nach unserem Modell wären die Menschen nach einer Weile aus dem Westen zurückgekommen, weil neue Jobs gewunken hätten.

Gerlinde Sinn: In einer Hinsicht war die Währungsunion verhängnisvoll. Sie hat die Erwartung geweckt, dass man sehr schnell auf Westniveau kommt. Das wiederholte sich später beim Euro. Die Griechen dachten, wenn sie reinkommen, können sie leben wie die anderen.

Hans-Werner Sinn: Und das Ergebnis ist ein wirtschaftlicher Kahlschlag mit Massenarbeitslosigkeit.

Gerlinde Sinn: Als Marktwirtschaftler lernt man, dass man nicht in den Preismechanismus eingreifen darf, um keinen Preis, das geht schief.

Der Staat muss sich raushalten? Das klappt politisch nicht.

Gerlinde Sinn: Der Staat hätte viel tun können, zum Beispiel - so haben wir es unserem Buch für die ehemalige DDR gefordert - die Bürger an den Betrieben und damit an den Gewinnen beteiligen.

Hans-Werner Sinn: Das war sogar explizit so im Einigungsvertrag vorgesehen, aber die Politik hat es ignoriert. Stattdessen hat man die ostdeutschen Betriebe an westdeutsche Hasardeure verschleudert, für fast nichts. Das war eine implizite Enteignung der ostdeutschen Bevölkerung. Es wurde alles rausgehauen. Mit einer Niedriglohnstrategie hätten die Betriebe eine Chance gehabt. Nicht wegen der Maschinen, die waren Murks, sondern wegen der Menschen. Da wären Investoren aus Fernost gekommen und hätten investiert.

Wie waren damals die Reaktionen auf Ihr Buch?

Hans-Werner Sinn: Recht feindlich. Das ging bis hin zur Drohung, die mir aus der Politik zugetragen wurden: Wenn Sie nicht Ruhe geben, schadet das Ihrer Karriere.

Wenn man zu zweit ein Buch schreibt, geht das nur, wenn man auf einer Wellenlänge ist.

Hans-Werner Sinn: Sind wir ja. Bis heute.

Wir haben aus unseren Gesprächen manchmal aber den Eindruck, dass Sie, Frau Sinn, viel strikter sind als Ihr Mann. Er gilt ja in der Öffentlichkeit als Hardliner, zum Beispiel beim Euro, aber am Ende lenkt er auch ein. Sie nicht.

Gerlinde Sinn: Ich kann bestimmte Dinge leichter sagen, weil ich nicht so exponiert bin.

Hans-Werner Sinn: Aber du bist doch auch nicht für die Abschaffung des Euro!

Gerlinde Sinn: Nein, aber ich finde schon, dass im Euro Dinge dramatisch schieflaufen. Die Währungsunion wird zur Transferunion, und Deutschland soll zahlen. Das kann ich nicht akzeptieren.

Eben, sagten wir doch: strikter!

Hans-Werner Sinn: Ich weiß nicht. (zögert) Gerlinde, ist es fair zu sagen, dass ich deine spontane Emotionalität manchmal etwas bremse?

Gerlinde Sinn: Ja, das ist fair.

Heute, mit einem Vierteljahrhundert Abstand: Würden Sie manches revidieren, was Sie in „Kaltstart" geschrieben haben?

Hans-Werner Sinn: Nein. Wenn man das damals so gemacht hätte, wie wir es vorgeschlagen haben, hätte Ostdeutschland ein Wirtschaftswunder erlebt wie Irland oder Tschechien.

Gerlinde Sinn: Wir sind oft unterwegs im Osten, erst vor Kurzem wieder, und werden oft von Menschen angesprochen, die sagen: Ich habe damals Ihr Buch gelesen, und Sie hatten ja absolut recht.

Danach, Frau Sinn, hat Ihr Mann alle Bücher allein geschrieben, stand allein in der Öffentlichkeit. Stört Sie das?

Gerlinde Sinn: Ach nein. Man muss einfach sehen, dass man unterschiedliche Rollen hat, auch einen unterschiedlichen Stil. Wir haben drei Kinder großgezogen. Ich arbeite ja weiter als Ökonomin, ehrenamtlich, aber mein Mann hat halt die Ämter. Und er schreibt sehr gerne.