"Deutschlands Milliarden sind schon jetzt verloren"

Interview mit Hans-Werner Sinn, welt.de, 06.07.2015

Nach dem Referendum bleibt nur der Grexit, sagt Hans-Werner Sinn. Ohnehin fehle der Politik die Zeit für einen Deal. Die Hilfsmilliarden seien weg – es gehe darum, nicht noch mehr Geld zu verbrennen.

Von Tobias Kaiser

Nach dem Referendum in Griechenland rechnet Hans-Werner Sinn damit, dass die Euro-Partner sich mit einem weiteren Hilfspaket nicht beeilen werden. Griechenland habe dann keine andere Wahl, als den Euro zu verlassen, sagt der Präsident des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo). Der Ökonom fordert seit Langem den Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone; anders habe das Land keine Chance, wirtschaftlich wieder zu gesunden.

Die Welt: Haben die Griechen mit dem Nein im Referendum die für sich richtige Entscheidung getroffen?

Hans-Werner Sinn: Letztlich ja. Das Ergebnis des Referendums wird vermutlich zum Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone führen, auch wenn die griechische Regierung mit der Entlassung des Finanzministers Varoufakis nun Verhandlungsbereitschaft signalisiert hat. Der Weg würde im ersten Jahr für die griechische Bevölkerung sehr schwierig werden, würde dem Land aber langfristig helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Das haben die meisten Griechen mit ihrem Votum zwar nicht beabsichtigt, aber doch in Kauf genommen.

Das Nein im Referendum war also auch ein Nein zum Euro?

Führende Politiker aus Brüssel und Berlin haben es vorher so interpretiert, und so sollte es jetzt kommen. Die Griechen wollen eine härtere Position ihrer Regierung in den Verhandlungen mit der Staatengemeinschaft und sie wollen noch mehr Geld. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es Tsipras gelingen wird, mehr Geld zu bekommen. Die anderen Euro-Länder werden sich nicht gerade beeilen, ihre Parlamente mit dem Thema zu befassen. Und in der Zeit, in der die griechische Regierung auf eine Entscheidung wartet, wird sie nicht anders können, als die eigene Währung einzuführen. Der Staat ist ja nicht mehr zahlungsfähig.

Könnte die Europäische Zentralbank einen Weg finden, den Griechen in der Zwischenzeit mit neuen Krediten zu helfen? Zuletzt war sie ja auch erheblich großzügiger als die Euro-Partner.

Der europäische Rettungsschirm EFSF hat am vergangenen Freitag festgestellt, dass Griechenland nicht mehr solvent ist, deshalb darf die EZB keine weiteren Ela-Kredite an Griechenland zulassen. Sie ist den Verhandlungsführern bislang schon massiv mit diesen Krediten in den Rücken gefallen. Damit muss nun Schluss sein.

Ela-Kredite sind Notfallkredite, die die griechische Notenbank mit Erlaubnis der EZB gewähren kann und die bisher die griechischen Banken liquide gehalten haben.

Genau. Für die Kredite braucht Griechenland zwar nur die Unterstützung einer Minderheit von einem Drittel der Stimmen im EZB-Rat, doch werden sich die Ratsmitglieder bewusst sein, dass sie rechtswidrig handeln, wenn sie Griechenland finanzieren, während die Rettungsschirme es nicht mehr tun. Die griechischen Banken, die kein Geld mehr haben, werden fürs Erste geschlossen bleiben, und die griechische Wirtschaft kommt zum Erliegen, bis die Drachme wieder als offizielles Zahlungsmittel eingeführt oder doch noch ein neuer Rettungsschirm zur Verfügung gestellt wird.

Wie schnell kann die Währungsumstellung gehen?

Das kann innerhalb eines Wochenendes geschehen, denn dafür müssen erst mal keine Geldscheine gedruckt werden. Es reicht zunächst, wenn alle Preisschilder, Lohnkontrakte, Mietkontrakte, Kreditverträge und Bilanzen auf Drachme umgestellt werden. Man ersetzt einfach nur die Euro-Zeichen durch Drachme-Zeichen und verbietet neue Euro-Verträge. Weil die Notenbank Drachmen selbst beschaffen kann, sind auf einen Schlag alle Banken wieder solvent. Natürlich wird es einigen Ärger machen, wenn auch die Auslandsschulden in Drachme umgestellt werden, und im Extremfall werden die Märkte und die Staatengemeinschaft Griechenland neue Kredite verwehren. Aber Griechenland kommt nach einer Abwertung allein zurecht.

Bisher hieß es immer, dass Griechenland den Euro nur verlassen kann, wenn die griechische Regierung den Austritt beantragt. Sie aber sagen jetzt, Griechenland wird nach dem Ergebnis vom Sonntag gar keine Wahl haben, als sich aus der Währungsunion zu verabschieden.

Griechenland muss und wird das vermutlich selbst entscheiden. Ich glaube nicht, dass die Staatengemeinschaft jetzt das nötige dritte Rettungspaket schnell aus dem Boden stampfen wird. Und wenn sich das hinzieht, wird Griechenland gezwungen, eine eigene Währung einzuführen.

Wie lang ist der Atem der griechischen Regierung? Wie lange kann sie auf eine Entscheidung der Euro-Partner warten?

Es liegen jetzt schon Schiffe vor den Häfen und können nicht abgefertigt werden, weil die griechischen Geschäftspartner nicht bezahlen können. Innerhalb weniger Tage und Wochen könnte es zu Versorgungsengpässen in Griechenland kommen. Ohne eine Drachme-Einführung würde es Szenen geben wie bei der Staatspleite von Argentinien, wo es tagelange Straßenkämpfe gab und die Geschäfte geplündert wurden. Erst die Abwertung hat Argentinien gerettet.

Wären bei einem Austritt auch die 87 Milliarden Euro verloren, für die Deutschland in der Griechenland-Rettung geradesteht?

Die 87 Milliarden Euro sind jetzt schon verloren, nicht erst durch den Austritt. Wenn überhaupt, bietet nur der Austritt den Gläubigern die Möglichkeit, irgendetwas von dem Geld wiederzusehen, weil nur der Austritt und die Abwertung für Griechenland den Exportüberschuss erzeugen kann, mit dem die Kredite zurückgezahlt werden könnten. Ohne den Austritt bliebe es beim Importüberschuss, und auf diese Weise würde die Kreditsumme, auch ohne Zinsen hinzuzurechnen, immer größer.

Was wird jetzt als Nächstes passieren?

Heute wird die EZB entscheiden, die Ela-Kredite an Griechenland nicht weiter auszudehnen. Die EZB wäre sogar in der Lage, die vergebenen Ela-Kredite von den griechischen Banken zurückzufordern, aber ich glaube nicht, dass sie so weit gehen wird. Die griechischen Kapitalverkehrskontrollen und die Begrenzungen für das Abheben von Geld am Automaten werden deshalb nicht verschwinden. Mit diesen Beschränkungen wird es schwierig für die Bürger und den Staat zurechtzukommen. Und es wird Kapital ins Ausland fliehen, selbst wenn Überweisungen ins Ausland verboten werden. Kein Grieche wird das Geld, dass er aus dem Automaten geholt hat, jemals wieder zu einer Bank bringen.

Werden die Finanzmärkte unter Druck geraten?

Nein, die Märkte sind weitgehend unbeeindruckt von dem, was mit Griechenland passiert. Wenn die Märkte darauf reagieren, dann hätten wir das schon vor einer Woche gesehen.

Ist die Entscheidung vom Sonntag der Anfang vom Ende des Euro?

Nein, ich glaube sogar, dass der Euro durch das Nein gestärkt würde, wenn ihm ein Austritt Griechenlands folgen würde. Dann wäre allen Regierungen klar, dass die Staatengemeinschaft nicht beliebig Rettungsschirme aufspannen kann und dass eine Politik der Verschuldung auch für Euro-Länder brandgefährlich ist. Das würde sich unmittelbar auf die Haushalte der anderen Euro-Länder auswirken und dazu führen, dass sie weniger stark über ihre Verhältnisse leben und den Gürtel enger schnallen.

Das heißt noch mehr Sparprogramme in den anderen Krisenländern, wo die Bevölkerung ohnehin schon leidet?

Natürlich ist das sozial schwierig, aber Spanien, Portugal und Italien sind immer noch zu teuer. Dort müssen Löhne und Preise sinken, damit die Länder wettbewerbsfähig werden. Das ist mühsam und mit sozialen Härten verbunden. Aber die Alternative wäre der Austritt aus dem Euro mit all seinen politischen Konsequenzen.

Was müssen die Euro-Partner jetzt tun, damit sich das Nein nicht zu einer großen Krise von Euro und möglicherweise sogar EU ausweitet?

Wir haben die große Krise doch schon seit vielen Jahren. Und dass sie zu Austritten führen würde, das haben wir seit fünf Jahren erwartet. Ich gehe davon aus, dass ein Austritt Griechenlands weitere Austritte unwahrscheinlicher macht, weil andere Länder nun mehr Haushaltsdisziplin zeigen werden. Die Bereitschaft, die Schmerzen der Anpassung zu ertragen, steigt durch den Austritt Griechenlands. Renzi beispielsweise, der Probleme hatte, sich gegen die Gewerkschaften durchzusetzen, wird es jetzt leichter haben, diese Widerstände zu überwinden.

Sie sprechen von weiteren Austritten, ist das tatsächlich eine Gefahr?

Spanien, Portugal und Italien, die es bisher in der Krise noch nicht auf einen grünen Zweig geschafft haben, sind latent gefährdete Staaten. Sie werden zu einer sparsameren Haushaltsführung zurückfinden und den notwendigen Prozess sinkender Preise und Löhne einleiten, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Das wird die Austrittsgefahr verringern.

Merkel trifft heute Frankreichs Staatspräsident Hollande, um mit ihm über Griechenland zu beraten. Was raten Sie ihr?

Ich würde der Bundeskanzlerin raten, den Griechen zu sagen, dass sie mit Bedauern akzeptiert, dass Griechenland nun den Weg des Austritts aus dem Euro eingeschlagen hat, und dass die Staatengemeinschaft bereit ist, Griechenland auf diesem Weg zu helfen. Ich hoffe, Frau Merkel wird diesmal den Mut zu einer nachhaltigen Entscheidung aufbringen.

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