„Übers Wochenende vom Euro zur virtuellen Drachme“

Interview mit Hans-Werner Sinn, Econo, 17.07.2015, S. 12-14.

Herr Professor Sinn, Griechenland ist hoffnungslos überschuldet. Es gibt keinen ernsthaften Ökonomen weltweit, der behaupten würde, das Land könnte seine Schulden jemals zurückzahlen. Warum gibt es keinen Schuldenschnitt?

Hans-Werner Sinn: Weil es die Defizite der Gläubigerländer sichtbar vergrößern würde, und die Schulden als Verlust verbucht werden müssten. Es hätte materiell zwar überhaupt keine Auswirkungen, aber ohne Schuldenschnitt kann man die Wahrheit verbergen, mit Schuldenschnitt nicht.

Ist ein Austritt Griechenlands aus der Währungsgemeinschaft, der Grexit unausweichlich?

Sinn: Nein, natürlich kann man Griechenland mit einem Schuldenschnitt und weiteren Hilfspaketen im Euro halten.

Sie vertreten die Auffassung, dass ein Austritt aus der Eurozone vor allem aus Sicht der Griechen dringend geboten sei.

Sinn: Ja, ich glaube, dass ein Austritt aus dem Euro die Lösung für Griechenland ist. Denn die Einführung des Euro hat Griechenland in eine inflationäre Kreditblase getrieben. Griechenland hatte vor dem EU-Beitritt Zinssätze von 25 Prozent zu zahlen, danach sind sie auf fünf Prozent gesunken. Die niedrigen Zinsen haben dazu geführt, dass der griechische Staat hohe Kredite aufgenommen, auf diese Weise die Löhne der Staatsbediensteten erhöht und mehr Leute eingestellt hat. Diese kreditfinanzierten Lohnzuwächse gingen über die Produktivitätszuwächse hinaus. Auch im privaten Sektor gab es ähnliche Effekte. Das bedeutete, dass die Preise stiegen. Sie stiegen sogar schneller als in den anderen Euroländern. Das hat die Wettbewerbsfähigkeit zerstört, griechische Produkte wurden zu teuer. Diese Phase ging und geht nur so lange gut, wie die entstehenden Leistungsbilanzdefizite durch immer neue Kredite finanziert werden. Der Austritt Griechenlands aus dem Euro ist eine Rettungsstrategie, durch den das Land wieder zu Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum zurückfinden kann.

Wie könnte ein Grexit ablaufen?

Sinn: Man kann durch ein Gesetz innerhalb eines Wochenendes alle Arbeitsverträge, Tarifvereinbarungen, Miet- und Kreditverträge von Euro auf virtuelle Drachme umstellen. Ab dem Montagmorgen ist die Drachme dann wieder offizielles Zahlungsmittel in Griechenland, auch wenn noch keine Münzen und Scheine der neuen Währung im Umlauf sind. Die kursierenden Euro-Scheine und Münzen könnten zunächst weiterhin als paralleles Zahlungsmittel genutzt werden, bis neue Drachmen geprägt und gedruckt sind. Der neue Wechselkurs von Drachme und Euro wird sich bereits unmittelbar nach der virtuellen Währungsumstellung bilden. Durch die neue abgewertete Drachme wird die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sehr schnell wieder hergestellt. Importwaren werden zu teuer, deshalb gehen die Inländer wieder zu ihren eigenen Herstellern, die billigere Waren anbieten. Dadurch hat die heimische Wirtschaft wieder zu tun, es werden in den Unternehmen neue Leute eingestellt. Außerdem kehrt das Fluchtkapital zurück, weil Immobilien billig geworden sind, und finanziert einen Bauboom. Das wird aber ein, zwei Jahre dauern. Auch der Tourismus wird in Schwung kommen.

Wenn man sich die Reden von Politikern anhört und die Entwicklung der Kapitalmärkte ansieht, in denen die Kapitalmarktzinsen für Staatsanleihen von Krisenstaaten stark gesunken sind, könnte man fast glauben, die Eurokrise sei vorbei. Gleichzeitig haben sich die Direktinvestitionen von Nordeuropa in Südeuropa seit Ausbruch der Finanzkrise halbiert. Bestenfalls „selektiv" würden die Unternehmen Übernahmen in Italien oder Spanien in Betracht ziehen, sagen Investmentbanker. Wie geht die Eurokrise Ihrer Meinung nach aus?

Sinn: Na ja, die Zinsen für Griechenland sind schon wieder hoch. Bei Papieren mit einer Restlaufzeit von zwei Jahren liegen sie bei fast 30 Prozent. Die Zinsen für Staatsanleihen von anderen Ländern sind allerdings niedrig. Die EZB will ja monatlich Staatsanleihen europäischer Staaten für 60 Milliarden Euro aufkaufen. Bis Ende September 2016 sollen durch das sogenannte Quantitative Easing (QE) 1,14 Billionen Euro in die Finanzmärkte fließen. Das Programm soll die Wirtschaft im Euroraum beleben und die niedrige Inflation anheben. Gleichzeitig führt das Programm zu einer Abwertung des Euro und erleichtert es, Schulden weg zu inflationieren. Ich kann mir schon vorstellen, dass es glimpflich ausgeht. Das setzt allerdings eine ziemliche Inflation voraus.

Als Hauptgründe für die wirtschaftliche Misere in Spanien, Italien und Co führen Sie die fehlende Wettbewerbsfähigkeit an. Nun sinken seit einigen Monaten die Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer - das Verhältnis von Exporten zu Importen wird also besser. Ist das kein Zeichen der Besserung?

Sinn: Nein, denn diese Länder haben gleichzeitig eine Massenarbeitslosigkeit. Der Saldo hat sich zwar verbessert, aber nicht durch steigende Wettbewerbsfähigkeit, sondern weil die Nachfrage wegen der hohen Arbeitslosigkeit einbrach und weniger importiert wurde. Die Exporte sind im Vergleich zum Vorkrisentrend nicht gestiegen, und es findet kaum eine strukturelle Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit statt. 

Verschiedene Staaten der Eurozone fordern, dass wir den Konsum ankurbeln, um so die Ungleichgewichte in Europa abzubauen.

Sinn: Wenn wir Rettungskredite geben, öffentliche Schutzsysteme aufbauen und dann irgendwann noch echte Transfers zahlen, dann kann nicht gleichzeitig der deutsche Konsum steigen. Man kann das Geld immer nur einmal ausgeben. Wenn man sein Geld ans Ausland verleihen oder verschenken muss, statt es selbst zu konsumieren oder für Investitionen zu verwenden, dann erzeugt man hohe Exporte, doch dämpft man gleichzeitig die Binnennachfrage. Und das Sparkapital will ja eigentlich nicht mehr aus Deutschland heraus.

Wie lange wird der Geldhahn der EZB noch offen bleiben?

Sinn: Sehr lange. Denn die EZB betreibt eine Rettungspolitik für die südeuropäischen Staaten und Frankreich. Und dort liegt die politische Mehrheit im EZB-System.

Wie entscheidend war es, den Maastrichter Vertrag zu brechen und wie wird Europa in fünf Jahren aussehen?

Sinn: Europa wird in fünf Jahren noch mehr verschuldet sein als jetzt schon. Südeuropa wird immer noch nicht auf einen grünen Zweig gekommen sein. Die Unzufriedenheit mit diesem System wird weiter wachsen, und radikale politische Parteien kriegen noch mehr Oberwasser. Eine Lösung für Südeuropas Krise innerhalb der nächsten fünf Jahre sehe ich nicht.

„Jahrhundertprojekt" hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Energiewende genannt. Kein Industriestaat hat sich bisher so ambitionierte Ziele gesetzt. Wird Deutschland zum globalen Vorbild oder aber zum abschreckenden Beispiel?

Sinn: Jedenfalls wird es keine Erfolgsgeschichte. Mit dieser Energiewende kommen wir nicht weit. Ein vollständiger Ersatz von konventioneller Energie durch grüne Energie ist nicht möglich, weil diese Energie viel zu flatterhaft ist. Und die Grenzen des Systems für die Aufnahme von grüner volatiler Energie sind schon jetzt erreicht, weil gelegentlich mehr grüner Strom produziert wird, als man durch Abschalten konventionellen Stroms abfedern kann. Will man noch mehr grünen Strom produzieren, braucht man Speicherkraftwerke, doch die sind extrem teuer. Dabei ist zu bedenken, dass es nicht nur um tageszeitliche oder wöchentliche Schwankungen geht, sondern auch um Schwankungen im Jahresablauf. Zur vollständigen Glättung des Wind- und Sonnenstroms würde man etwa 3500 Pumpspeicherwerke durchschnittlicher Größe benötigen, hundert Mal so viele wie Deutschland heute hat.

Mit etwa 30 Cent pro Kilowattstunde liegen die Stromkosten der Verbraucher schon heute beim Doppelten von dem, was etwa die Verbraucher in Frankreich zahlen müssen. Und die Energiewende wird nach Aussage des Bundesumweltministeriums mehr als 1000 Milliarden Euro kosten.

Interview: Dirk Mewis