ifo Standpunkt Nr. 116: Die Ironie der Krise

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 6. Juli 2010

Die Rettungspakete wurden am Wochenende des 8.-9. Mai in Brüssel geschnürt. Zusätzlich zu dem 80-Milliarden-Euro-Paket, das bereits für Griechenland vereinbart war, stimmten die Länder der Europäischen Union einem Kreditrahmen von € 500 Milliarden für andere notleidende Länder zu. Der Internationale Währungsfonds steuerte weitere € 280 Milliarden bei.

Die treibende Kraft hinter den Beschlüssen war der französische Präsident Nicolas Sarkozy, der sich mit den Regierungschefs der südeuropäischen Länder abgesprochen hatte. Französische Banken, die übermäßig viele südeuropäische Staatsanleihen hielten, waren die hauptsächlichen Nutznießer der Rettungspakete.

Da über das zuvor vereinbarte griechische Paket hinaus keine weiteren Rettungsmaßnahmen auf der Tagesordnung für das Brüsseler Treffen standen, dachte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, sie könnte getrost nach Moskau fahren, um des Endes des Zweiten Weltkriegs zu gedenken – im Gegensatz zu Sarkozy, der die Einladung des russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin ausschlug. Und bekanntlich hatte es ja auch in der deutschen Delegation selbst unvorhergesehene Probleme gegeben, die niemand zu verantworten hatte.

Indem er eine Systemkrise des Euro ausrief, ergriff Sarkozy die Gelegenheit und überrumpelte Deutschland. Er forderte Unmengen an Geld, und wie der spanische Ministerpräsident José Luis Zapatero berichtete, drohte er damit, Frankreich aus dem Euro zu nehmen und die französisch-deutsche Achse aufzubrechen, wenn Deutschland sein Portemonnaie nicht öffnen würde. Nach nur zwei Verhandlungstagen hatte die No-bailout-Klausel des Maastricht-Vertrags ausgedient, die Deutschland damals zur Bedingung für eine Aufgabe der Deutschen Mark gemacht hatte. Der Club Med hatte die Macht in Europa übernommen.

Selbst die Europäische Zentralbank machte mit und kaufte Staatsanleihen von überschuldeten Ländern, wobei sie ein Schlupfloch im Vertrag von Maastricht nutzte und die deutschen Vertreter der Bank überstimmte. Im europäischen Haus knirscht es seitdem gewaltig. Der deutsche Bundespräsident trat kurz nach den Beschlüssen zurück – einige meinen sogar wegen dieser Beschlüsse. Deutschlands Wirtschaftselite ist in Aufruhr. Olaf Henkel, der Ex-Vorsitzende des BDI, befürwortet eine Aufspaltung der Eurozone in einen nördlichen und einen südlichen Teil, wobei Frankreich zu letzterem gehören würde, und er steht mit seinen Empfehlungen nicht allein.

Ich selbst teile diese Ansicht nicht. Der Euro hat Europa erfolgreich vor Wechselkursrisiken geschützt, und er stellt einen sinnvollen Schritt zur weiteren europäischen Integration dar. Darüber hinaus ist die französisch-deutsche Achse für Europas Stabilität unverzichtbar.

Trotzdem bedrohen die Spannungen, die durch Sarkozys Rücksichtslosigkeit entstanden sind, Europas politische Stabilität und verstärken die Unsicherheit auf den Märkten im Vergleich zu dem, was ein umsichtigeres, besser koordiniertes Rettungsprogramm bewirkt hätte. Das vereinbarte Programm reicht offenkundig nicht aus, die Anleger zu beruhigen, und mit der Brüskierung Deutschlands ist es eher unwahrscheinlich geworden, dass es zu einer Verlängerung der Rettungsmaßnahmen kommen wird, zumindest einer Verlängerung in der jetzigen Form.

Die Argumente, mit denen der Coup gerechtfertigt wurde, sind zweifelhaft. Um die No-bailout-Klausel auszuhebeln, dramatisierten Sarkozy und andere europäische Politiker den Niedergang der südeuropäischen Staatsanleihen und den damit einhergehenden Anstieg der Zinsspreads. Indem sie offiziell eine Systemkrise des Euro ausriefen – als es in Wirklichkeit lediglich eine nervöse Marktreaktion gab, die die Staatsanleihen einiger europäischer Länder betraf –, konnten sie sich auf Artikel 122 des EU-Vertrags berufen, der dafür vorgesehen war, Mitgliedsländern im Falle von Naturkatastrophen beizustehen, über die sie keine Kontrolle haben.

Die Ausrufung einer Systemkrise hat freilich neues Öl ins Feuer gegossen. Die Investoren der Welt nahmen Europas Führungsspitzen beim Wort, da Politiker eine Krise normalerweise eher herunterspielen als übertreiben.

Am 7. Mai, als behauptet wurde, die Welt ginge unter, betrug die durchschnittliche Zinsdifferenz der Länder, die formal von dem neuen Rettungsschirm geschützt werden, im Verhältnis zu Deutschland 1,08 Prozentpunkte. Dann schien es so, als würden die Rettungspakete die Spreads auf wesentlich niedrigere Werte drücken, doch verblasste der Optimismus, als die Kriseninterpretation der europäischen Spitzenpolitiker den Marktteilnehmern immer mehr ins Bewusstsein drang. Bis zu der Woche, die am 18. Juni endete, war der durchschnittliche Spread auf 1,1 Punkte geklettert.

Offenbar ist der Markt jetzt genauso nervös, wie er es vor dem Wochenende im Mai war. Doch ist das keine Katastrophe. 1995, kurz bevor der Euro angekündigt wurde, lag der entsprechende Zinsspread bei 2,6 Prozentpunkten, also bei mehr als dem doppelten Niveau. Der Euro war nicht in Gefahr, als die europäischen Führungsspitzen beschlossen, ihn zu retten, und er ist auch jetzt nicht in Gefahr. Die Märkte bewegen sich nur auf ein neues Gleichgewicht mit höheren Zinsspreads zu, die das höhere Ausfallrisiko einiger europäischer Länder widerspiegeln – ein bisschen wieder so, wie es in der Zeit vor dem Euro war, nur mit kleineren Werten.

Die Marktkorrektur wird zu einem Ende kommen, wenn angemessene Spreads gefunden sind. Jeder politische Versuch, den Korrekturprozess vorzeitig abzublocken, ist zum Scheitern verurteilt. Es gibt keinen Grund zur Panik und allen Grund, ruhig zu bleiben und abzuwarten, bis sich ein neues Gleichgewicht einstellt.

Zinsspreads zwischen sicheren und riskanten Anlagen sind für funktionierende Kreditmärkte normal. Sie signalisieren potenzielle Risiken und zwingen die Kreditnehmer zur Schuldendisziplin. Genau das braucht Europa. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der Länder bestrafen sollte, die die Defizitgrenze von 3 % des BIP überschreiten, war ein Witz: Kein einzige Schuldensünder wurde je bestraft. Nur die Kapitalmärkte haben es im Endeffekt geschafft, die Sünder zur Einsicht zu bewegen und mehr Schuldendisziplin einzufordern.

Die Disziplinierung durch die Kapitalmärkte wird die gigantischen Kapitalimporte der Länder in Europas südwestlicher Peripherie eindämmen und die Überhitzung beenden, die der Euro auf dem Wege der Zinskonvergenz hervorgebracht hat. Diese Länder werden einen Konjunkturabschwung erleben, der ihre Inflation verringert (sie vielleicht in die Nähe einer Deflation bringt), die Wettbewerbsfähigkeit verbessert und die Leistungsbilanzdefizite reduziert.

Dagegen wird Deutschland, das unter dem Euro an einer relativen Deflation und einer langen Wirtschaftsflaute gelitten hat, einen langfristigen Wirtschaftsaufschwung erleben, der über das konjunkturelle Geschehen hinausführt. Dieser Aufschwung wird im Endeffekt auch zu mehr Inflation im Verhältnis zu den anderen europäischen Ländern führen, die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen und den Leistungsbilanzüberschuss verringern. Die französische Finanzministerin Christine Lagarde, die sich häufig über den deutschen Exportüberschuss beschwerte, sollte sich über diese von ihrem Präsidenten unbeabsichtigt verstärkten Marktreaktionen freuen.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen bei Project Syndicate (www.project-syndicate.org), 25. Juni 2010; ebenso abgedruckt in: Business Day (Nigeria), The New Times (Ruanda), Phnom Penh Post (Kambodscha), China Daily (China), The Japan Times (Japan), Business World (Philippinen), Vilaggazdasag (Ungarn), Finance (Slowenien), Al-Sabah Al-Jadeed (Irak), The Daily Star (Libanon), Al Eqtisadiah (Saudi-Arabien), L’Echo (Belgien), Borsen (Dänemark), Börsen-Zeitung (Deutschland), Journal De Negocios (Portugal), Sydsvenskan (Schweden), L’Agefi (Schweiz).