ifo Standpunkt Nr. 124: EZB muss sich wandeln

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 08. Juli 2011

Um die jüngste Zinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zu verstehen, muss man sich noch einmal die ökonomischen Wirren vergegenwärtigen, die Europa nach Einführung des Euro erlebt hat. In der EU-Peripherie entstand ein Wirtschaftsboom, weil der Wegfall der Wechselkursrisiken die Zinsen senkte und massive Kapitalströme von Deutschland dorthin induzierte. Löhne, Einkommen und Importe der Südstaaten stiegen rasch, die Exporte aber gingen zurück, weil die Länder immer teurer wurden. Der Kapitalzufluss führte zu Defiziten im Außenhandel.

Dann kam die Finanzkrise, das private Kapital traute sich nicht mehr in die Peripherie. Erst wanderte es ins Portemonnaie, dann wurde es zu Hause investiert und löste in Deutschland einen Investitionsboom aus. Die Peripherie kam in ernste Schwierigkeiten, denn die Wettbewerbsfähigkeit war verloren, und nun fehlte das private Kapital, die Außenhandelsdefizite zu finanzieren.

Doch die EZB half, indem sie gewaltige Kreditströme von der Deutschen Bundesbank in die Peripherie lenkte. Seit Beginn der Krise sind 340 Milliarden Euro an öffentlichen Krediten über das sogenannte Target-System in die GIPS-Staaten (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien) geflossen, gerade so viel, wie die akkumulierten Leistungsbilanzdefizite ausmachten. Auf Deutschland entfällt auf diese Weise ein Kreditrisiko von 114 Milliarden Euro.

So schöpfte zum Beispiel die Zentralbank Griechenlands das zur Finanzierung des Außenhandelsdefizits nötige Geld und verlieh es über die Banken an griechische Importeure. Die überwiesen das Geld an ihre deutschen Lieferanten, wobei ihre Banken das Target-System der EZB nutzten.

Durch die Überweisung wurde die Geldschöpfung in Griechenland rückgängig gemacht, während die Bundesbank im Austausch für eine Target-Forderung gegen die EZB neues Geld schuf, das sie über die Geschäftsbanken an deutsche Lieferanten auszahlte. Kurz gesagt: Wenn die Griechen einen Mercedes importieren wollten, haben sie die Bundesbank angerufen und gebeten, Geld zu drucken und es nach Untertürkheim zu schicken – im Austausch für einen Schuldschein, den sie ihrer Zentralbank übergaben. Als die Märkte nicht mehr bereit waren, die Importwünsche der GIPS-Länder zu finanzieren, erwies sich dieses System als Goldesel für die Aufrechterhaltung des Lebensstandards.

Doch dann bekam die EZB kalte Füße. Deshalb hat sie die Regierungen Europas so energisch bedrängt, öffentliche Rettungsschirme aufzuspannen und Länder wie Irland und Portugal fast schon mit Gewalt darunter geschubst. Diese Länder wollten ihre Außenhandelsdefizite natürlich lieber von der EZB als vom Fonds der Staatengemeinschaft (EFSF) finanzieren lassen, denn bei der EZB zahlten sie nur ein Prozent, während der Fonds 5,9 Prozent verlangte.

Die EZB weiß, auf welcher Zeitbombe sie sitzt, und will die fast unsichtbaren Target-Kredite unter allen Umständen durch parlamentarisch genehmigte Kredite ablösen. In der Presse ist zu lesen, dass Portugal nun unter den Rettungsschirm schlüpft, weil die Märkte nicht mehr willens seien, das Land zu finanzieren. Doch es ist die EZB, die nicht mehr will. Die Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite war in den Krisenjahren 2008 und 2009 vielleicht noch zu rechtfertigen, obwohl sich auch hier die Frage stellt, ob eine solche Kreditvergabe zur Finanzierung der Leistungsbilanzsalden nicht der Zustimmung der Parlamente bedurft hätte.

Es ging damals darum, eine historische Krise der Weltwirtschaft zu meistern. Spätestens seit 2010 hätte die EZB aber mit dieser Politik aufhören müssen.

Kritiker der Zinswende führen an, dass es Krisenstaaten nun noch schwerer fiele, auf den alten Wachstumspfad zurückzufinden. Dieses Argument übersieht, dass die Rückkehr gar nicht möglich ist – weil die privaten Kapitalströme dafür nicht mehr vorhanden sind. Die Länder müssen runter von überzogenen Löhnen und Preisen, damit sie wieder wettbewerbsfähig werden, und nur so viel Außenhandelsdefizite behalten, wie über die Märkte finanziert werden kann. Es ist unmöglich, diese Defizite auf Dauer durch öffentliche Kredite zu finanzieren, ohne dass das Euro-System vollends außer Kontrolle gerät. Die Fortsetzung der von der EZB begonnenen Politik würde die Auslandsschulden der Peripherie-Länder immer weiter aufblähen und im Endeffekt die EZB – und damit letztlich auch die Bundesrepublik Deutschland – zum Eigentümer der Länder an der südlichen Peripherie Europas machen. Daran würde der Euro zerbrechen.

Die EZB muss eine radikale Kehrtwende einleiten und aufhören, Außenhandelsdefizite zu finanzieren. Die jüngste Zinserhöhung ist dabei indes nur eine der nötigen Maßnahmen. Auch die Vollzuteilungspolitik, wonach die Banken unbegrenzt Zentralbankgeld bekommen, muss beendet werden. Aber auch das wird nicht reichen: Die EZB muss vor allem die Kreditschöpfung für die Euro-Länder kontingentieren und die Target-Salden deckeln. Sonst wird man sie eines Tages des Missbrauchs ihrer Befugnisse bezichtigen.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel „EZB muss sich wandeln“, WirtschaftsWoche, Nr. 16, 18. April 2011, S. 44.