ifo Standpunkt Nr. 152: Weltmeister beim Kapitalexport

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 12. März 2014

Diese Zahlen werden die Debatte weiter anheizen: Nach aktuellen Berechnungen des ifo Instituts dürfte Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss 2013 mit 200 Milliarden Euro – das sind rund 7,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – einen neuen Rekordstand erreichen. Abermals wird Deutschland damit den wohl weltweit größten Überschuss vorweisen.

Angesichts des Umstandes, dass Deutschlands Kunden in Südeuropa großenteils weggebrochen sind, ist diese Entwicklung höchst verwunderlich und bedarf der Erklärung. Eigentlich hätte der ökonomische Zusammenbruch Südeuropas eine Verminderung der deutschen Überschüsse erwarten lassen.
Meine Erklärung geht so: Die Rettungskredite flossen nach Südeuropa, wurden dort vor allem für die Tilgung von Auslandsschulden auch von Drittländern eingesetzt, und die Drittländer erwarben verstärkt deutsche Waren. Außerdem haben die südeuropäischen Länder weiterhin Importgüter aus Deutschland und dem Rest der Welt bezogen, wenn auch nicht so viele wie vorher.

Aber was ist der kausalen Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Kapitalexport und der Leistungsbilanz? Nun, zunächst einmal sollte man die Identität zwischen dem gesamten Kapitalverkehr, ob öffentlich oder privat, und der Leistungsbilanz verstehen. Deutschland produziert Güter, und im Wert der produzierten Güter entstehen Einkommen. Einkommen sind Ansprüche auf Güter. Wenn Deutsche die Ansprüche durch Konsum und Investition selbst realisieren, also wertmäßig so viel Güter absorbieren wie sie erzeugen, dann ist die Leistungsbilanz ausgeglichen. Wenn sie mit ihren Ersparnissen Ansprüche auf Güter an Ausländer verleihen oder, wie man auch sagt, Kapital exportieren, dann fließen per Saldo auch Güter dorthin. Es entsteht ein Leistungsbilanzüberschuss. Die Frage, ob die Kapitalströme die Leistungsbilanz determinieren oder umgekehrt die Leistungsbilanz die Kapitalbilanz, ist müßig, weil beide denselben Vorgang messen.

Deutschland hat nach der Einführung des Euro sehr viel Ersparnis und damit netto auch Güter exportiert, weil die Investitionsmöglichkeiten im Ausland attraktiver als im Inland zu sein schienen. Die inländischen Nettoinvestitionen waren zeitweilig die geringsten aller OECD-Länder. Deshalb hatte es Leistungsbilanzüberschüsse. Als die Krise ausbrach und die Privaten beim Verleih weiterer Ersparnisse zögerlich wurden, sprang die Europäische Zentralbank (EZB) ein. Sie unterbot den Kapitalmarkt in Südeuropa mit ihren Refinanzierungskrediten und setzte ihre Politikparameter so, dass die deutschen Banken die Refinanzierungskredite, die sie selbst von der Bundesbank bezogen hatten, zurückzahlten, ja netto sogar Geld an die Bundesbank verliehen. Dann hat sie die Steuerzahler mit ihrem OMT-Programm gezwungen, den Sparern Geleitschutz beim Erwerb von Staatsanleihen der Krisenländer zu geben. Schließlich hat Deutschland sich an den fiskalischen Rettungskrediten der Staatengemeinschaft beteiligt. All diese Maßnahmen bedeuteten einen massiven Transfer der deutschen Ersparnis über öffentliche Kanäle oder mit öffentlichem Schutz ins Ausland, nachdem der freiwillige private Transfer nur noch in geringem Umfang stattfand. Das sind Fakten, an denen nicht zu rütteln ist.

Die Kredithilfen der EZB und der Staatengemeinschaft zeigen sich nicht in einer positiven Korrelation zwischen dem deutschen Leistungsbilanzüberschuss und diesen öffentlichen Krediten, denn die öffentlichen ersetzten ja großenteils nur die privaten Kredite. Außerdem kamen die privaten Kredite, die es noch und wieder gibt, zum Teil durch den öffentlichen Versicherungsschutz zustande, den das OMT bedeutet.

Die in Südeuropa von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellten Ersatzkredite hatten zweierlei Wirkung. Zum einen erlaubten sie es den Südländern, weiterhin deutsche Waren zu kaufen, wenn auch nicht mehr so viele wie zu vor. Sie verringerten die Geschwindigkeit, mit der sich die Leistungsbilanzsalden in der Krise anpassten. Zum anderen halfen sie den Südländern, in großem Umfang laufende ausländische Kredite aus Drittländern zurückzuzahlen. Die Verfügungsrechte auf Waren, die Deutschland mit der Kreditvergabe abtrat, wanderten über die Krisenländer in diese Drittländer und finanzierten den Erwerb deutscher Güter. Konkret drückten die Euros, die zur Tilgung verwendet wurden, auf den Devisenmärkten den Eurokurs – in Dollar gerechnet fiel der Kurs um 13 Prozent von 2008 bis 2013 – und hielten ihn auf einem für Deutschland viel zu niedrigen Niveau. Dass in den letzten Jahren die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber den Krisenländern fielen, doch gegenüber dem Rest der Welt stiegen, dürfte genau hierin seine Ursache haben. Die Beruhigung der Kapitalmärkte seit 2013 dürfte diesen Trend nach Überwindung einer natürlichen Trägheit in der Leistungsbilanz aber wohl allmählich wieder abschwächen.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen in ähnlicher Form unter dem Titel “Weltmeister beim Kapitalexport”, Wirtschaftswoche, Nr. 4, 20. Januar 2014, S. 40.