ifo Standpunkt Nr. 19: Doppelte einfache Mehrheit

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 05.12.2000

Europas formale Entscheidungsstrukturen zu verstehen ist nicht einfach, denn sie sind aus historischen Kompromissen entstanden. Im Europa der sechs waren sie unbedeutend, im Europa der 15 muss man sie ernst nehmen, und im Europa der 25 werden sie die Marschrichtung bestimmen. Auch ein Land wie Deutschland, das sich bislang großzügig bei der Erlangung von Stimmgewichten zurückgehalten hat, muss versuchen, die Entscheidungsstrukturen mitzubestimmen, die nach der Osterweiterung gelten sollen.

Deutschland bringt 39% des Geldschöpfungsvermögens in die Währungsunion ein, erhält 31% der Zinseinnahmen und stellt derzeit 12% der Sitze im Rat der Europäischen Zentralbank.

Im europäischen Parlament hat Deutschland mit 99 Stimmen die größte Fraktion, vor Frankreich, Italien und Großbritannien mit jeweils 87 Stimmen, aber sein Stimmanteil entspricht nicht seiner Bevölkerungsstärke. Das Gewicht eines französischen Stimmbürgers liegt im Parlament um 25% über dem eines Deutschen.

In der europäischen Kommission stellt Deutschland wie Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien je zwei Mitglieder, die kleineren Länder je einen. Deutschlands Anteil an den Kommissaren liegt bei 10%, obwohl sein Bevölkerungsanteil 24% beträgt.

Auch beim Ministerrat, der in etwa 100 jährlichen Sitzungen alle wichtigen Entscheidungen der EU trifft, liegen die Verhältnisse ähnlich. Die vier größten Länder haben 10 Stimmen, Spanien verfügt über 8 Stimmen, und Länder wie die Niederlande, Belgien, Griechenland oder Portugal haben 5 Stimmen. Selbst Luxemburg verfügt über 2 Stimmen. Leipzig, das so groß ist wie Luxemburg, hat auf dem Wege über die Vertretung der Bundesrepublik im Ministerrat gerade einmal 0,05 Stimmen. Ein Einwohner Griechenlands hat im Ministerrat ein Stimmgewicht in Höhe von 390% des Stimmgewichtes eines Deutschen, und ein Franzose hat immerhin ein Gewicht von 140%.

Das System ist stark verzerrt, weil es EU-Bürger erster, zweiter und dritter Klasse schafft. Es ist mit dem Gedanken einer fairen Zusammenarbeit beim Aufbau des gemeinsamen Europa unvereinbar. Der notwendige Schutz der kleinen Länder lässt sich als Begründung der Ungleichheit nicht mehr anführen. Dazu ist sie viel zu groß und unsystematisch.

Viel spricht für eine klare Trennung in zwei Kammern, wie sie der deutsche Außenminister vorgeschlagen hat. Die eine Kammer könnte dem deutschen Bundesrat nachempfunden werden und unter Hinnahme der Ungleichgewichte die Regionen vertreten. Die andere hätte aus dem Parlament zu bestehen, das wesentlich mehr Funktionen als derzeit übernehmen würde und die europäische Bevölkerung anteilig zu vertreten hätte. Doch zu einer solch weitreichenden Reform fehlt der EU die Kraft. In Nizza werden kleinere Brötchen gebacken.

Dennoch muss vor der Osterweiterung der Union gehandelt werden, weil man sich eine lineare Fortschreibung des alten Systems auf die neuen Verhältnisse schlechterdings nicht vorstellen kann. Da mit Estland, Lettland und Litauen drei neue Luxemburgs hinzutreten, würde der Einfluss der großen Länder nur noch stärker verwässert, und das Demokratiedefizit wüchse ins Unerträgliche.

Die EU-Länder planen für Nizza einen kleinen, aber wichtigen Schritt. Sie wollen den Bereich der Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat ausdehnen und dabei als neue Entscheidungsregel die doppelte einfache Mehrheit einführen. Damit eine Entscheidung getroffen werden kann, bedarf es zum einen der Zustimmung der Mehrheit der Länder im Ministerrat, und zum anderen muss diese Mehrheit auch die Mehrheit der Wohnbevölkerung Europas widerspiegeln. Dies ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Demokratie und Gleichheit in Europa. Es steht nur zu hoffen, dass er bei den Verhandlungen in Nizza nicht wiederum durch implizite oder explizite Einwohnerveredelung bei manchen Ländern unterlaufen wird.

Hans-Werner Sinn
Präsident des ifo Institut