ifo Standpunkt Nr. 20: Chaos in Nizza

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 20.12.2000

Eine verfassunggebende Versammlung kann nur hinter dem "Schleier des Unwissens" sinnvoll funktionieren, also bevor ihre Mitglieder wissen, von welcher Regelung sie selbst betroffen sein werden. Wenn man die Verfassung zu schreiben versucht, obwohl der Schleier des Unwissens bereits gelüftet ist, dann lassen sich keine allgemeinen und unparteiischen Entscheidungsregeln mehr finden, es sei denn, ein jeder bringt die Größe auf, von seiner eigenen Situation zu abstrahieren. Das hat der Philosoph John Rawls erkannt, und das folgt im Grunde auch schon aus dem kategorischen Imperativ von Immanuel Kant. Das unwürdige Gefeilsche um die Stimmrechte, das in Nizza stattfand, hat die Grundprinzipien der Verfassungstheorie verhöhnt. Zu genau wussten die Organisatoren der Konferenz, welche Regeln ihnen selbst helfen würden, zu ängstlich waren sie um ihren eigenen Vorteil bemüht.

Im Vorfeld der Regierungskonferenz hatte die Hoffnung bestanden, die Europäische Kommission werde mit ihrem Vorschlag, die doppelte einfache Mehrheit einzuführen, Gehör finden. Danach wäre für Mehrheitsbeschlüsse sowohl eine einfache Mehrheit der Länder als auch eine Mehrheit der durch sie repräsentierten Bevölkerung nötig gewesen. Eine Reihe kleinerer Länder mit wenig Einwohnern hätte genauso über eine Sperrminorität verfügt wie wenige große Länder mit einem hohen Bevölkerungsanteil. Es wäre eine Situation wie in einem Zwei-Kammern-System entstanden, bei dem die eine Kammer die Bevölkerung und die andere die Länder repräsentiert. Die kleinen Staaten wären geschützt worden, und doch wären die Einwohner in den großen Staaten gleich behandelt worden.

Dieser Vorschlag wurde von Frankreich abgeblockt, weil er nach französischer Meinung dem Bevölkerungskriterium und damit auch Deutschland zu viel Gewicht gegeben hätte. Statt dessen gelang es dem Gastgeber des Gipfels, seine Gestaltungsmacht in der Weise einzusetzen, dass ein kaum noch verständliches zweistufiges Wahlsystem mit lauter "krummen" und von Willkür strotzenden Kennziffern beschlossen wurde. Den Ländern wurde eine unterproportional mit der Bevölkerungszahl ansteigende Stimmenzahl zugeordnet, die keiner nachvollziehbaren Gesetzmäßigkeit genügt. Zwei Ländern, Rumänien und Deutschland, wurden völlig außer der Reihe erhebliche Stimmabzüge zumutet, die seine Einwohner zu Unionsbürgern zweiter Klasse abstempeln. Zwei andere, Spanien und Polen, wurden sehr großzügig behandelt. Zudem wurden unterschiedliche prozentuale Sperrminoritäten für das Bevölkerungskriterium und die Stimmenzahl genannt, auf die man sich beim besten Willen keinen Reim machen kann.

Bezüglich der Sperrminoritäten gibt es auch eine Woche nach Vertragsabschluß noch keine Klarheit. Während es eindeutig ist, dass die Sperrminorität beim Bevölkerungskriterium 38% beträgt, bleibt die Größe der Sperrminorität beim Stimmenkriterium im Dunkeln. Nicht nur die großen Tageszeitungen machten hierzu widersprüchliche Angaben, selbst die offizielle englischsprachige Vertragsversion bietet für den Fall der Erweiterung der EU ein ganzes Potpourri von möglichen Zahlenangaben. In Annex II des Vertrages von Nizza (Declaration on the Enlargement of the European Union ...) wird für Beschlüsse eine Mehrheit von 258 Stimmen gefordert, was bei einer Gesamtstimmenzahl von 345 eine Sperrminorität von 88 Stimmen impliziert. In Annex III (Declaration on the Qualified Majority Threshold ...) wird die Zahl 73,4% für die qualifizierte Mehrheit genannt, aus der eine Sperrminorität von 92 Stimmen folgt, und kurz danach ist explizit von einer Sperrminorität von 91 Stimmen die Rede. Nur für die alte EU ist das Stimmenkriterium mit einer Sperrminorität von 68 Stimmen oder 28,7% eindeutig geregelt, der Rest ist unklar. In Nizza muss das reine Chaos geherrscht haben.

Was auch immer gemeint war, die Sperrminorität gemäß dem Bevölkerungskriterium wird stark entwertet, wenn für sie mit 38% ein deutlich höherer Wert als für die Sperrminorität nach dem Stimmenkriterium festgesetzt wird, die je nach EU-Größe und Vertragsinterpretation irgendwo zwischen 28,7% und 25,5% liegt. Es gibt wegen der willkürlichen Spreizung der Prozentsätze nur ganz wenige Länderkonstellationen, in denen aufgrund des Bevölkerungskriteriums eine wirksame Sperrminorität aufgebaut werden kann. In den allermeisten Fällen greift die Sperrminorität gemäß dem Stimmenkriterium, bevor die Sperrminorität nach dem Bevölkerungskriterium relevant wird. Deutschland wurde als bevölkerungsreichstem Land der EU ein optisches Zugeständnis gemacht, das an den Kommissionsvorschlag der doppelten Mehrheit erinnert, das aber materiell ziemlich bedeutungslos ist.

Die europäische Union ist aus einer Kette von Kompromissen entstanden, deren Sinnhaftigkeit sich dem kritischen Betrachter schon häufig entzogen hat. Was nun jedoch in Nizza zusammengeschustert wurde, stellt alles bislang Gewesene in den Schatten. Das kleinkrämerische Tauziehen um Stimmrechte hat keine allgemeinen Regeln hervorgebracht, die den Anforderungen des klaren Menschenverstandes genügen, von den Prinzipien, die Rawls oder Kant formuliert haben, ganz zu schweigen.

Hans-Werner Sinn
Präsident des ifo Institut