ifo Standpunkt Nr. 31: Was der Euro wirklich bedeutet

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 30. April 2002

Die Einführung des Euro ist ein notwendiger Schritt in der politischen Entwicklung Europas. Was aber bedeutet der Euro wirklich für die wirtschaftliche Entwicklung dieses Kontinents und seiner Teile? Dass man nun die Preise besser vergleichen und Wechselgebühren sparen kann ist offenkundig, aber nebensächlich.

Die bei weitem wichtigste Implikation ist die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Kapitalmarktes, der mit dem Euro von den Barrieren befreit wurde, die instabile Wechselkurse bedeuteten. Noch im Jahr 1995 lagen die Zinsen langfristiger Staatsanleihen in Italien oder Spanien um fünf bis sechs Prozentpunkte über den deutschen Zinsen, weil internationale Kapitalanleger hohe Risikoprämien verlangten, und ähnlich war es in anderen Ländern. Nur Österreich und Holland hatten die gleichen niedrigen Zinsen wie Deutschland. Mit der Ankündigung und Einführung des Euro haben sich die Zinsen nahezu perfekt angeglichen.

Die Konsequenz ist, dass der Rentabilitätsmaßstab, dem reale Investitionen genügen müssen, überall in Europa gleich ist, und dass die Firmen der peripheren Länder nun zu den gleichen günstigen Bedingungen Kredite aufnehmen können, wie sie früher den deutschen, österreichischen und holländischen Firmen vorbehalten waren. Dies wird zu einem Investitionsboom in den südlichen und peripheren Ländern Europas führen, der sich in einer Erhöhung der gesamteuropäischen Wachstumsrate niederschlägt. Wegen der Schaffung des einheitlichen Kapitalmarktes wird die Konvergenz in Europa beschleunigt und ein nachhaltiger Wachstumsschub erzeugt, der eine Dekade oder länger anhalten kann.

Speziell für Deutschland bringt all dies jedoch ambivalente Implikationen mit sich. Vermutlich wird Deutschland auch wegen des Euro vorläufig das europäische Schlusslicht beim Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bleiben. Ob dies einen absoluten oder nur einen relativen Wachstumsnachteil bedeutet, ist nicht klar. Zur Zeit sind die Zinsen noch so niedrig, dass man aus der Verbesserung der Situation der anderen Länder keine absoluten Nachteile für Deutschland herauslesen kann. Indes könnte es passieren, dass die hohe Kapitalnachfrage in den von den Risikoprämien befreiten Ländern das deutsche Zinsniveau mittelfristig über jenes Niveau hinaus erhöht, das sonst realisiert worden wäre. Dann entstünde auch ein absoluter Wachstumsnachteil. Dieses Ergebnis ist sogar relativ wahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass im Außenverhältnis nach wie vor flexible Wechselkurse herrschen, die einen perfekten weltweiten Zinsverbund verhindern.

Bei der Bewertung dieser Entwicklung muss man freilich vorsichtig sein, denn die Wahrheit ist kompliziert, weil es hier zu Lande Gewinner und Verlierer gibt. Man kann recht sicher davon ausgehen‚ dass diejenigen Produktionsfaktoren, die zum Faktor Kapital komplementär sind, und das ist insbesondere der Faktor Arbeit, zu den Verlierern gehören werden. Durch die Verlangsamung der Kapitalakkumulation wächst die Arbeitsproduktivität langsamer, und der Spielraum für beschäftigungsneutrale Lohnerhöhungen verringert sich. Demgegenüber können die deut-schen Sparer, Kapitalanleger und Direktinvestoren durch die gefahrlose Verlagerung ihres Kapitals in die bisherigen Hochzinsländer vorläufig sehr viel höhere Renditen erwirtschaften, als es sonst der Fall gewesen wäre. Vermutlich werden die Gewinne der Gewinner die Verluste der Verlierer überkompensieren, wie es bei der Herstellung von Freihandel regelmäßig der Fall zu sein pflegt. Es könnte also sein, dass auch die Deutschen im Durchschnitt Einkommensgewinne erzielen, obwohl die Mehrheit der Deutschen zu den Verlierern gehört.

Der Euro hat zusammen mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, der eine Niedriglohnkonkurrenz vor der eignen Haustür geschaffen hat, die Wettbewerbsverhältnisse für den Standort Deutschland verschlechtert. Man kann nicht mehr wie selbstverständlich davon ausgehen, dass die deutsche Wirtschaft, ausgerüstet mit dem Privileg einer konkurrenzlos stabilen Währung, die Lokomotive des Kontinents bleibt. Umso dringlicher ist es nun, den internen Reformstau in der Bildungspolitik und auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden, der die Wettbewerbsfähigkeit ebenfalls beeinträchtigt. Die Versäumnisse und Fehlentwicklungen der Vergangenheit, die bislang von anderen Vorteilen übertüncht wurden, kommen immer deutlicher zum Vorschein und verlangen eine mutige Kehrtwende der Wirtschaftspolitik.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Eine ausführlichere Fassung erschien in der Zeitschrift "Akademie Aktuell" der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1/2002, April 2002).