ifo Standpunkt Nr. 42: Rente nach Kinderzahl

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 15. Januar 2003

Die Rentenkrise, die, wie alle wissen, zu Rentenkürzungen führen wird, ist vor allem auf den Geburtenrückgang in Deutschland zurückzuführen. Zehn Deutsche haben im Laufe ihres Lebens kaum mehr als sechs Kinder. Auch bei der Geburtenrate gehört Deutschland im internationalen Vergleich zu den Schlusslichtern. Der Geburtenrückgang hat vielfältige Ursachen, doch eine der wichtigsten ist das Rentensystem selbst.

Die Rentenversicherung ist eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit und die daraus entstehende Altersarmut. Auch wenn man selbst keine Kinder haben kann, muss man im Alter nicht darben, weil man von den Kindern anderer Leute ernährt wird. Der gegenseitige Versicherungsschutz ist ein großer Vorteil für alle Beteiligten. Problematisch ist nur, dass diese Versicherung die ökonomischen Gründe für den Kinderwunsch aus der Familienplanung ausblendet, indem sie die Leistungen der Kinder an die vorangehende Generation fast vollständig sozialisiert. Vor der Einführung der Rentenversicherung durch Bismarck war es auch in Deutschland üblich, Kinder zu bekommen, um den eigenen Alterskonsum sicherzustellen. Dieses Motiv entfällt heute. Auf eigene Kinder kommt es bei der Versorgung im Alter nicht mehr an. Es reicht, wenn andere Leute Kinder in die Welt setzen, die später die Rentenbeiträge zahlen. Die Rentenversicherung hat eines der wichtigsten Motive für den Kinderwunsch aus dem Bewusstsein der Menschen verdrängt.

Es ist kein Zufall, dass Deutschland, wo ja die Rentenversicherung erfunden wurde, heute zu den Ländern mit der niedrigsten Geburtenrate gehört. Generationen von Deutschen haben seit 1889 die Erfahrung gemacht, dass man auch ohne eigene Kinder im Alter zurecht kommt, und so haben sich auf dem Wege der Nachahmung von Generation zu Generation neue Lebensmuster verbreitet, die an die neuen institutionellen Verhältnisse angepasst sind. Das Single-Dasein wurde immer attraktiver, und die DINK-Familie ist heute in. "Double income, no kids!" lautet die Devise. Zwei Einkommen ohne Kinder ist allemal besser als ein Einkommen mit mehreren Kindern. So lebt es sich angenehmer.

Aber jede Generation wird einmal alt, und dann kann sie nur leben, wenn sie in ihrer Jugend selbst vorgesorgt hat. Entweder muss sie Humankapital gebildet haben, indem sie Kinder in die Welt gesetzt und groß gezogen hat. Oder sie muss gespart und somit direkt oder indirekt Realkapital gebildet haben, um vom Verzehr dieses Kapitals zu leben. Eine Generation, die weder Human- noch Realkapital bildet, muss im Alter hungern.

Da die Deutschen heute weniger Humankapital bilden, als es frühere Generationen taten, müssen sie als Ersatz Realkapital anhäufen, um so die mangels Nachkommen wegfallenden Rententeile zu ersetzen. Dies ist die richtige Überlegung, die zur Riesterrente und zur Rentenkürzung im Umlagesystem geführt hat. Die Riesterrente ist aber noch nicht zu Ende gedacht. Sie kuriert die Symptome der deutschen Krankheit, doch nicht ihre Ursachen. Sie verringert die Fehlanreize für die Familienplanung nicht und führt zu kaum erträglichen Lasten bei denjenigen, die durch die Erziehung von Kindern bereits den vollen Beitrag zur Finanzierung der Umlagerenten leisten.

Statt eine ganze Generation kollektiv in die Verantwortung zu nehmen, sollten die notwendigen Rentenkürzungen und das kompensierende Riester-Sparen auf die Kinderlosen konzentriert werden. Wer keine Kinder in die Welt setzt und großzieht, dem kann eine Rentenkürzung auf die Hälfte zugemutet werden. Dabei dürfen allerdings die bereits aufgebauten Anwartschaften nicht angetastet werden. Es geht nur um die heute noch jüngeren Menschen. Sie haben Zeit genug, sich auf dem Wege des Riester-Sparens eine auskömmliche Rente zu sichern, falls sie keine Kinder haben können oder wollen.

Die Staffelung von Umlage- und der Riesterrente nach der Kinderzahl ist gerecht, weil sie dem Verursacherprinzip und dem Leistungsfähigkeitsprinzip folgt. Wer keine Kinder hat und insofern zu wenig tut, um seine eigene Rente im Umlagesystem zu sichern, muss die Konsequenzen tragen und selbst auf dem Wege der Ersparnis für Ersatz sorgen. Und wer keine Kinder hat, kann sparen, weil er keine Ausgaben für die Kindererziehung leisten muss. Er ist vergleichsweise liquide und kann die bei der Kindererziehung eingesparten Geldmittel am Kapitalmarkt anlegen, um auf diese Weise seine gekürzte Umlagerente zu ergänzen.

Man mag gegen den Vorschlag einwenden, mit der Zahlung des Rentenbeitrages erbrächten junge, kinderlose Bürger bereits eine Leistung für die eigene Rente, und insofern sei es ungerecht, sie auf dem Wege des Riester-Sparens zu einer zweiten Leistung zu zwingen. Dieses Argument verkennt, dass es historisch immer zu den normalen Pflichten einer jeden Generation gehörte, zwei Leistungen zu erbringen: In der leistungsfähigen Lebensphase muss man seine Eltern und seine Kinder ernähren. Die erste dieser beiden Leistungen wird in Form der Rentenbeiträge erbracht, die ja in vollem Umfang an die heutigen Rentner fließen. Doch die zweite Leistung wird von vielen Menschen nicht mehr erbracht, weil sie sich gegen Kinder entscheiden. So gesehen ist es sehr wohl gerecht, nun auch diesen Menschen eine zweite Leistung in Form des Riester-Sparens abzuverlangen. Dadurch sichern sie sich die Rente, deren Vollfinanzierung man den wenigen zukünftigen Beitragszahlern nicht mehr zumuten kann. Menschen, die mehrere Kinder großziehen, an der Riesterrente zu beteiligen, hieße indes, ihnen eine dreifache Last aufzuerlegen. Als Beitragszahler ernähren sie die jetzt Alten, als Eltern finanzieren sie über die Kosten der Kindererziehung die Renten aller zukünftiger Rentenbezieher, und als Riester-Sparer müssten sie zusätzlich ihre eigenen Renten finanzieren.

Die Staffelung der Umlagerente nach der Kinderzahl ist nicht nur gerecht, sie wird darüber hinaus zu einer wünschenswerten Änderung der Familienplanung führen. Wenn Kinderlose 8% ihres Bruttoeinkommens für ein bloß kompensierendes Riester-Sparen verwenden müssen, erhalten Kinder in der Lebensplanung wieder ein stärkeres Gewicht. Manch ein bislang noch unschlüssiges junges Paar wird sich unter diesen Umständen vielleicht doch für Kinder entscheiden.

Alle Erfahrung zeigt, dass gerade auch die Familienplanung sehr stark auf ökonomische Anreize reagiert. Als die DDR in den siebziger Jahren ökonomische Anreize zur Erhöhung der Geburtenraten einführte, stieg die Zahl der neugeborenen Kinder deutlich an. Und als das Saarland 1957 von der großzügigen französischen Unterstützung für Familien auf das knauserige westdeutsche System umgestellt wurde, gingen die Geburtenraten deutlich zurück. Die so genannte Social Security Hypothesis, nach der die Ausgestaltung des Rentensystems den Kinderwunsch maßgeblich mitbeeinflusst, ist von der einschlägigen Fachliteratur auch für Deutschland empirisch bestätigt worden.

Das alles heißt nicht, dass einer staatlichen Bevölkerungspolitik das Wort geredet werden soll, deren Ziel es ist, in die freien Entscheidungen der Menschen einzugreifen und sie bei der Kinderwahl zu bevormunden, im Gegenteil. Heute greift der Staat auf dem Wege über das Rentensystem ganz massiv in die Familienplanung ein, indem er die Rentenbeiträge der Kinder sozialisiert und so die natürlichen Vorsorgemotive für den Kinderwunsch aus den Köpfen der Menschen vertreibt. Die Rente nach der Kinderzahl einzuführen, heißt, den Grad der Sozialisierung zurückzufahren, also den Staat wieder ein Stück weit aus der Familienplanung herauszunehmen. Es heißt nicht, ihn dabei mitreden zu lassen.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "Rente nach Kinderzahl" in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.1.2003, Nr. 11, S. 12.
Vgl. auch "Wer keinen Nachwuchs hat, muss zahlen" in Financial Times Deutschland vom 27.12.02, S. 30.