ifo Standpunkt Nr. 46: Schulden statt Steuern?

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 19. Juni 2003

Europa steckt in einer konjunkturellen Flaute, aber keiner Rezession. Die Regierungen sollten diese Flaute nicht zum Vorwand nehmen, noch mehr Haushaltslöcher mit Krediten zu stopfen, als sie es ohnehin schon tun. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt trifft für den Fall der Rezession explizite Vorkehrungen, und er definiert klare Bedingungen. Solange das Sozialprodukt nicht schneller schrumpft als um 0,75%, dürfen die Länder Europas sich auch nicht um mehr als 3% verschulden. Pacta sunt servanda.

Eine Reihe von Ländern liegt noch deutlich unter der 3-Prozent-Grenze beim Defizit-Kriterium. Diese Länder könnten und sollten jetzt Gas geben und ihren Spielraum für keynesianische Nachfragepolitik ausnutzen, aber die anderen nicht, insbesondere Deutschland nicht. Wir sollten uns schämen, dass wir den Stabilitäts- und Wachstumspakt, den wir gegen den Willen der anderen europäischen Länder durchgedrückt haben, im letzten Jahr mit einer Neuverschuldung von 3,6% verletzt haben, und dass wir in diesem Jahr auf die 4% hinzielen. Das ist ein schwerwiegender Bruch des Vertrauens in die Glaubwürdigkeit und Stabilität unseres Landes, der den Standort Deutschland massiv beschädigt. Alles muss jetzt daran gesetzt werden, die Staatsfinanzen zu konsolidieren.

Klar, die Steuerreform sollte so durchgeführt werden, wie das ursprünglich vereinbart war, aber dies darf nicht heißen, dass mehr Schulden gemacht werden. Wie das freilich innerhalb dieses Jahres noch gehen soll, ist schleierhaft. Bislang sind ja noch nicht einmal die Ausgabenkürzungen definiert, die die Neuverschuldung unter 3% drücken würden. Man muss froh sein, wenn es beim jetzigen Rechtsstand bleibt, so dass wir die nächste Stufe der Steuerreform zum ersten Januar 2004 und vor allem die übernächste Stufe zum ersten Januar 2005 tatsächlich bekommen.

Das Vorziehen der gerade erst verschobenen Steuerreform wäre ein Zick-Zack-Kurs, der alles nur noch verschlimmern würde. So etwas könnte die Regierung in der Hoffnung fordern, mehr Zustimmung für eine unsolide Haushaltspolitik zu gewinnen, aber sie käme dann in den Verdacht, eine breite Mehrheit der Bevölkerung durch das Steuergeschenk zu Hehlern machen zu wollen. Das wäre zu durchsichtig, als dass es ernst genommen werden könnte.

Insofern erübrigt sich auch die Diskussion darüber, wie das kreditfinanzierte Vorziehen der Steuerreform die Konjunktur beeinflussen würde. Vermutlich würde der Konsum steigen, doch Investitionen der Personengesellschaften würden sich wegen der Entwertung der Abschreibungsvergünstigungen auf dem Wege über die Finanzmärkte tendenziell eher ins Ausland verlagern. Das alles sind sehr komplexe Mechanismen, die man nicht in drei Sätzen diskutieren kann.

Wir brauchen die Steuerreform so, wie sie angekündigt ist, aber ohne Schuldenerhöhung. Das Arbeiten muss sich wieder lohnen, und die Investitionen müssen im Hinblick auf das Marktergebnis statt mit dem Blick auf mögliche Steuerersparnisse durchgeführt werden. Das alles sind langfristige, strukturelle Aspekte, die mit der Konjunktur nichts zu tun haben. Es wäre eine beachtliche Leistung, wenn die Regierung es schaffen würde, die angekündigte Reform plangemäß durchzuführen und den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu erfüllen. Diese Leistung setzt sofortige und umfassende Maßnahmen zur Begrenzung der Kosten des Sozialstaates und zur Verringerung der Subventionen voraus. Darüber sollte jetzt diskutiert werden. Nur wer es schafft, ganz konkret zu sagen, welche Ausgaben gekürzt werden sollen, leistet einen glaubhaften Beitrag zur Verringerung der Steuerlast in Deutschland. Alles andere ist bloßes Polittheater.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts