ifo Standpunkt Nr. 52: In der Schuldenfalle

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 21. Mai 2004

Ein Hund legt sich keinen Wurstvorrat an. Die deutschen Regierungen taten dies auch nicht. Als das Geld da war, wurde es verprasst, und als es nicht reichte, wurden Schulden gemacht. So glitt der deutsche Staat in die Schuldenfalle, in der er nun festsitzt.

Den ersten großen Schuldensprung hat die sozialliberale Koalition getan. Die Schuldenquote, also die Relation von Staatsschulden und Bruttoinlandsprodukt, verdoppelte sich von 20 auf knapp 40 Prozent. Helmut Schmidt und Walter Scheel wollten zwar die Geschenke des Sozialstaates verteilen, aber sie wollten den Bürgern die Rechnung nicht präsentieren. Der zweite Sprung kam unter Helmut Kohl. Er wagte es nicht, den Bürgern bezüglich der Kosten der Vereinigung reinen Wein einzuschenken und zog es vor, die Transfers in die neuen Länder auf Pump zu finanzieren. Die Schuldenquote stieg von 40 auf über 60 Prozent. Sie war so hoch, dass Theo Waigel nicht einmal den normalen Einstieg in die Währungsunion schaffte, was eine Quote von weniger als 60 Prozent verlangt hätte. Selbst den total überschuldeten Italienern konnte man daraufhin den Beitritt in die Währungsunion nicht mehr verwehren.

Gerhard Schröder und Hans Eichel folgten in den Fußstapfen ihrer Vorgänger. Sie erhöhten die Schuldenquote von 61 Prozent im Jahr 1998 auf 64 Prozent im letzten Jahr, in diesem Jahr treiben sie die Schuldenquote an die 66-Prozent-Grenze, und im nächsten Jahr steuern sie auf 68 Prozent zu. Die Staatsschulden werden im nächsten Jahr die Grenze von 1,5 Billionen Euro übersteigen. Das ist dann mehr als drei Mal so viel wie zum Zeitpunkt des Mauerfalls.

Schuldenmachen ist schön, wenn man damit anfängt. Der Spaß hört auf, wenn man auf den Schulden sitzt und die Zinsen zahlen muss. Früher konnte man das Thema mit dem Hinweis auf reiche zukünftige Generationen verdrängen. Aber das geht heute nicht mehr. Zum einen sind wir das Land mit der niedrigsten Wachstumsrate weit und breit seit 1995. Woher der zukünftige Reichtum kommen soll, steht insofern in den Sternen. Zum anderen schwinden die zukünftigen Generationen wegen der Geburtenarmut der Deutschen dahin. Es gibt vermutlich kein Land auf der Welt, in dem die Zahl der Geburten relativ zur Bevölkerung so klein ist wie in Deutschland. Die Babyboomer, die 1964 geboren wurden, sind jetzt vierzig. Nach ihnen kommt nicht mehr viel. Schon die Altersklasse der Dreißigjährigen ist um 40 Prozent dünner besetzt, und dann schwinden die Alterskohorten weiter. Nein, die Vorstellung, dass zukünftige Generationen uns aus der Patsche helfen, ist abwegig. Wir selbst sind die „reichen zukünftigen Generationen“, von denen die Politiker früherer Zeiten immer sprachen. Wir sind es, die die Zeche zahlen müssen.

Die Zinsen auf die Staatsschuld liegen in diesem Jahr bei mehr als 68 Milliarden Euro, obwohl die Zinssätze zur Zeit so niedrig sind wie nie zuvor. Wenn sich die Zinssätze wieder normalisieren, wird die Zinslast um die Hälfte steigen und über 100 Milliarden Euro liegen. Schon heute liegt die Zinslast über der Nettoneuverschuldung von 65 Milliarden Euro, die der Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt.

Das ist der wahre Grund, warum die Regierung sich nicht an den Pakt hält und das EU-Recht bricht. Sie will auch etwas von der Verschuldung haben wie ihre Vorgänger, und sie sieht nicht ein, dass sie weniger Schulden machen soll, als sie an Zinsen zahlen muss. Deswegen soll das Finanzierungsdefizit des Staates in diesem Jahr erneut 80 Milliarden Euro ausmachen. Wie immer reicht das Geld nicht, und statt den Gürtel enger zu schnallen, stellt der Staat abermals neue Wechsel auf die Zukunft aus.

Die Regierung führt als Begründung an, dass sie Deutschland nicht kaputt sparen will. In Wahrheit macht sie nicht nur Deutschlands Glaubwürdigkeit kaputt, sondern auch die Bereitschaft der Investoren, sich hierzulande langfristig zu binden. Wer sein Geld in Deutschland lässt, muss wissen, dass er eines Tages zur Kasse gebeten wird.

Deutschland hat sich mit seiner Schuldenpolitik zum Gespött Europas gemacht. Die europäische Kommission hat Klage beim europäischen Gerichtshof erhoben, um Deutschland zur Zahlung der Vertragsstrafen zu zwingen. Die Präsidenten der Landesrechnungshöfe und des Bundesrechnungshofes haben einen dramatischen Spar-Appell an die Regierung gerichtet, der in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel ist. Das alles riecht nach Staatskrise.

Die Krise muss noch abgewendet werden. Dazu muss auch der deutsche Staat lernen, dass man nicht dauerhaft über seine Verhältnisse leben kann. Der Anteil, den der Staat vom Bruttoinlandsprodukt absorbiert, ist seit der Kanzlerschaft Willy Brandts um 10 Prozentpunkte, nämlich von 39 % auf 49 % gestiegen. Die Staatsquote am Nettoinlandsprodukt, also der Summe aller in Deutschland verdienten Einkommen, liegt sogar schon über 57 %. Das meiste Geld ging in das Sozialbudget, das heute je nach Abgrenzung zwischen 600 und 700 Mrd. Euro ausmacht, und auch die Unternehmen wurden mit vielen Dutzenden von Milliarden Euro bedacht. 41 % der erwachsenen Deutschen leben von staatlichen Renten, Pensionen, Arbeitslosengeldern, Sozialhilfeleistungen, Bafög und ähnlichen Transfers. Das alles kann so nicht bleiben, wenn Deutschland wieder eine Zukunft haben soll. Deshalb müssen die meisten Subventionen fallen, und die sozialen Leistungen sollten nur noch im Ausmaß der Inflation erhöht werden. Das reale Wachstum der Wirtschaft muss für eine Rückführung der Staatsquote genutzt werden. Nur so kann sich Deutschland allmählich wieder aus der Schuldenfalle befreien.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "Schulden sind unsozial", Stern, 19.5.04, S. 194.