ifo Standpunkt Nr. 54: Wohlfahrtsmagnet Deutschland

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 20. Juli 2004

Deutschland ist ein Wohlfahrtsmagnet für die Armen dieser Welt. Bismarck hat den Sozialstaat erfunden, und in den letzten drei Jahrzehnten haben ihn verschiedene Regierungen weiter perfektioniert. Der Sozialstaat ist mit dafür verantwortlich, dass von 1970 bis 2002 netto etwa siebeneinhalb Millionen Menschen nach Deutschland eingewandert sind.

Natürlich hat die Zuwanderung viele Gründe, auch viele nicht-ökonomische, und unter den ökonomischen Gründen standen statt der Leistungen des Sozialstaates die im Vergleich zu anderen Ländern hohen deutschen Löhne an erster Stelle. Migration, die durch Lohndifferenzen angetrieben wird, die selbst wiederum aus dem freien Spiel der Marktkräfte resultieren, ist grundsätzlich nützlich für alle beteiligten Länder. Da Lohndifferenzen die Differenzen in der Arbeitsproduktivität der Länder widerspiegeln, kann man bei funktionierenden Arbeitsmärkten davon ausgehen, dass das gemeinsame Sozialprodukt durch die Zuwanderung eines Arbeitnehmers im Umfang der Lohndifferenz steigt.

Die Lohndifferenzen sind indes nicht nur das Ergebnis des freien Spiels der Marktkräfte, und außerdem treten zu den Lohndifferenzen die Geschenke des Sozialstaates als Migrationsanreize hinzu. Die Migration in den Wohlfahrtsstaat hat deshalb eine viel größere praktische Bedeutung, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Es gibt drei zentrale Migrationsanreize, die vom Sozialstaat ausgelöst werden.

Der erste Anreiz ist die direkte Umverteilung zugunsten zuwandernder Arbeitnehmer. Da ausländische Arbeitnehmer schon wegen ihrer Sprachdefizite nur ein unterdurchschnittliches Einkommen erwirtschaften, partizipieren sie an der Umverteilung von Reich zu Arm, wie sie nun einmal das Wesen des Sozialstaates ist. Sie erhalten beitragsfinanzierte Leistungen wie Rentenansprüche und Krankenversicherungsschutz, sie partizipieren an steuerfinanzierten Leistungen wie an der ergänzenden Sozialhilfe oder der freien Schulausbildung, und sie können die gesamte staatliche Infrastruktur von der Straße über den Polizeischutz bis zum Rechtssystem in Anspruch nehmen. Doch sie zahlen dafür nur sehr wenig. Im Jahr 1997 lag das Nettogeschenk des umverteilenden Staates pro Person gerechnet über alle Zuwanderer während der ersten zehn Jahre des Aufenthalts in Deutschland im Durchschnitt bei jährlich 2400 Euro.

Der zweite Anreiz wird durch Löhne für einfache Arbeit gebildet, die erst durch staatliche Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld und Sozialhilfe auf ihr heutiges Niveau gehoben wurden. Die künstlich auf einem überhöhten Niveau fixierten Löhne induzieren ein Übermaß an Zuwanderung, doch da der Arbeitsmarkt auf die Zuwanderung nicht mit einer Lohnsenkung reagieren kann, werden keine neuen Stellen für die Zuwandernden zur Verfügung gestellt. Die Zuwanderung verdrängt die Einheimischen in die Arbeitslosigkeit, und die Arbeitslosigkeit erhöht die Kosten des Sozialstaates. Diese Form der indirekten Zuwanderung in den Sozialstaat ist eines der zentralen Probleme unseres Landes und eine der hauptsächlichen Erklärungsgründe für die Finanzprobleme des Staates. Von den Zuwanderern, die von 1970 bis 2002 netto in die Bundesrepublik kamen, haben etwa 3,1 Millionen offiziell Arbeit gefunden, doch in der gleichen Zeit stieg die Arbeitslosigkeit unter den Einheimischen um 3,2 Millionen. Die Zahlen sind zwar kein Beweis, aber sie sind erhellend. Der Beweis liegt in der volkswirtschaftlichen Theorie, die kaum einen anderen Schluss zulässt, wenn der Staat durch Lohnersatzleistungen eine Mindestlohnschranke im Tarifgefüge setzt und die Zuwanderung erlaubt.

Der dritte Typ von Anreiz betrifft nicht-erwerbstätige Personen. Dieser Typ ist schon deshalb der unwichtigste, weil die europäischen Freizügigkeitsrechte bislang vornehmlich auf Arbeitnehmer und andere Erwerbspersonen beschränkt waren. Mit dem Sozialkapitel der neuen Verfassung, hier insbesondere Artikel II 34, und der neuen Freizügigkeitsrichtlinie der EU, die mit der Osterweiterung in Kraft trat und innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht übertragen werden muss, wird die Tür des Sozialstaates nun aber auch für nicht erwerbstätige Personen etwas weiter aufgestoßen. Für einen Aufenthalt von bis zu fünf Jahren brauchen diese Personen nun zwar Existenzmittel und einen Krankenversicherungsschutz. Doch danach haben sie, auch wenn sie nicht über solche Mittel verfügen, das Daueraufenthaltsrecht und können alle Leistungen des Staates einschließlich der Sozialhilfe nach den gleichen Regeln beanspruchen wie Inländer. Im übrigen können sie, anders als heute, vor Ablauf der fünf Jahre nicht schon deshalb ausgewiesen werden, weil ihre Existenzmittel frühzeitig zur Neige gegangen sind. Wenn sie mit ihrem Sozialhilfebezug den Staat nicht unangemessen belasten, sollen sie nicht ausgewiesen werden.

Deutschland ist heute an einem Punkt angekommen, wo es sich eine Fortsetzung der Magnetwirkungen seines Sozialstaates nicht mehr erlauben kann, wo aber der wachsende Liberalisierungsdruck seitens der EU eine Verstärkung dieser Wirkungen erzwingt. In diesem Konflikt muss die Politik den Mut aufbringen, sich des Problems mit ganz grundsätzlichen Reformen anzunehmen. Diese Reformen reichen von nationalen Maßnahmen wie dem Wechsel von einer Lohnersatz- zu einer Lohnzuschusspolitik, die die Löhne flexibel macht und die Immigration in die Arbeitslosigkeit verhindert, bis zu Maßnahmen zur Beschränkung der Inklusionsrechte von Zuwanderern, wie sie Großbritannien bei den Verhandlungen zur EU-Verfassung hat durchsetzen können.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "Teurer Sozialmagnet", Capital, Nr. 15, Juli 2004, S. 3.