ifo Standpunkt Nr. 58: Hartz V

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 8. November 2004

Nach Hartz IV muss Hartz V kommen, denn die Reform hat Mängel, so mutig sie ist. Das größte Problem sind die Zuverdienstregeln für die künftigen Bezieher des neuen Arbeitslosengeldes II. Es lohnt sich für sie kaum, Jobs anzunehmen. Von jedem zusätzlichen Euro, den sie brutto verdienen, dürfen sie in der Regel nicht mehr als 20 Cent behalten – meistens sogar nur 9 bis 15 Cent.

Besonders betroffen sind die bisherigen Bezieher von Arbeitslosenhilfe, die einen geringfügigen Nebenjob hatten. Sie konnten bislang 165 Euro im Monat oder mehr hinzuverdienen, ohne dass ihnen die Hilfe gekürzt wurde. Beim Arbeitslosengeld II sind demgegenüber nur 50 Euro frei. Der Rest führt zu 85 Prozent zu einer Kürzung der Hilfe. Wer 200 Euro verdient, behält so nur 73 Euro mehr in der Tasche, und wer 400 Euro verdient, dem bleiben nur 103 Euro. Sehr viele Erwerbslose werden deshalb auf ihre Minijobs verzichten und ihr Heil in der Schwarzarbeit suchen.

Der 85-prozentige Entzug der Hilfe gilt bis zu einem Einkommen von 400 Euro. Darüber hinaus entsteht bis zu einem Bruttoeinkommen von 900 Euro durch den Mittelentzug und Sozialabgaben eine Grenzbelastung von circa 80 Prozent. Danach gehen von jedem zusätzlichen Euro sogar rund 90 Prozent wieder verloren. Das gilt bis zu dem Einkommen, bis zu dem das Arbeitslosengeld II noch gewährt wird, also bei Alleinstehenden bis etwa 1200 Euro und bei Verheirateten oder Personen mit Kindern bis mindestens 1600 Euro, wenn man typische Wohnkostenzuschüsse unterstellt.

Der Entzug der Hilfe ist eine für die meisten unüberwindliche Hürde für den Einstieg in den Arbeitsmarkt. Er schafft so hohe Lohnansprüche, dass nur sehr wenige Arbeitsplätze rentabel sind. So braucht beispielsweise ein Arbeitnehmer, der einen Nettolohn von 5 Euro in der Stunde verlangt, um Freizeit oder Schwarzarbeit aufzugeben, einen Stundenlohn von brutto 33 Euro, um sein Arbeitsangebot über die Einkommensfreigrenze von 50 Euro auszudehnen, und von 25 Euro, um mehr als nur auf einem mit 400 Euro dotierten Minijob arbeiten zu können. Wer 900 Euro verdient, benötigt für die Mehrarbeit sogar einen Stundenlohn von 54 Euro. Wer als Verheirateter die Wahl zwischen der Nichtbeschäftigung und einer Stelle hat, die ihm 1600 Euro brutto bringt, braucht einen Stundenlohn von 28 Euro, um netto auf 5 Euro pro Stunde zu kommen. Solcherlei Ansprüche lassen sich kaum erfüllen. In den Köpfen der Arbeitgeber, seien es Firmen oder private Haushalte, gibt es zwar Stellen in Hülle und Fülle, nicht jedoch Stellen, die bei solchen Löhnen rentabel sind.

Dieses Problem wird beim Modell der Aktivierenden Sozialhilfe, das vom ifo Institut entwickelt wurde, vermieden. Im ifo-Modell wird ein freier Hinzuverdienst bis zu 400 Euro gewährt, und außerdem werden die ersten 200 Euro, die man selbst verdient, mit 20 Prozent bezuschusst. Jenseits von 400 Euro liegt die Grenzbelastung des Einkommens durch Transferentzug und Abgaben bei etwa 71 Prozent. So bringt ein 200-Euro-Job im ifo-Modell 240 Euro netto statt nur 73 Euro wie bei Hartz IV, und vom 400-Euro-Job bleiben statt der kümmerlichen 103 Euro, die Hartz IV belässt, 398 Euro übrig. Das führt auch zu niedrigeren Lohnansprüchen: Für einen 400 Euro-Minijob braucht man, um netto 5 Euro pro Stunde zu verdienen, nur 5 Euro brutto und nicht 19 Euro wie bei Hartz IV. Und wer als nicht Alleinstehender für 1600 Euro brutto arbeitet, muss nur einen Stundenlohn von 10,70 Euro verlangen, um auf einen Nettoverdienst von 5 Euro pro Stunde zu kommen, statt 28 Euro wie bei Hartz IV.

Natürlich fallen wegen der sinkenden Lohnansprüche auch die Löhne der bereits beschäftigten Arbeitnehmer im Bereich geringer Qualifikationsstufen. Das lässt sich bei keinem Programm vermeiden, das Arbeitsplätze schafft. Wer anderes behauptet, weiß nicht, wovon er redet. Beim ifo-Modell wird die Lohnsenkung aber auch bei den bereits beschäftigten Arbeitnehmern durch den hohen Hinzuverdienst und eine Lohnsteuergutschrift aufgefangen.

Trotz der Lohnsenkung und trotz einer Reduktion des Regelsatzes des Arbeitslosengeldes II, die nötig ist, um dem Staat Zusatzausgaben zu ersparen, steigt beim ifo-Modell das Einkommen der Geringverdiener. In der Summe aus dem selbst verdienten Lohn, der Lohnsteuergutschrift und der Sozialhilfe haben sie mehr Geld in der Tasche als bei der Arbeitslosigkeit, die Hartz IV nicht beseitigen kann.

Die Politik versucht, das Problem der exzessiven Anspruchslöhne durch die Ein-Euro-Jobs in den Griff zu bekommen, denn wer einen zumutbaren Ein-Euro-Job ablehnt, dem kann die Unterstützung im ersten Schritt um 30 Prozent gekappt werden. So gesehen wird der mögliche Hinzuverdienst vergrößert und der Mindestlohnanspruch gesenkt. Aber es bleibt unklar, welche Tätigkeiten im Einzelfall wirklich zumutbar sind, wie lange sie ausgeübt werden müssen und wie die Konkurrenz zur privaten Wirtschaft vermieden werden soll.

Das ifo-Modell vermeidet diese Probleme. So wird der Sozialhilfe-Abschlag im Falle der Nicht- Arbeit klar geregelt, so dass keinerlei Beweisnöte entstehen. Zugleich werden die Kommunen verpflichtet, für all jene, die selbst in der privaten Wirtschaft nicht unterkommen, Leiharbeitsverhältnisse bei privaten Arbeitgebern bereitzustellen. Die Betroffenen erhalten einen Lohn in Höhe der bisherigen Sozialhilfe von der Kommune, und der Verleih erfolgt zu einem Honorarsatz, der bei den privaten Arbeitgebern Interesse schafft. Das Programm führt zur Vollbeschäftigung der gering Qualifizierten, denn es wird einen von null verschiedenen Honorarsatz geben, zu dem dieses Interesse geweckt werden kann. Größer als null ist nämlich selbst die Produktivität der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Jeder wird gebraucht, was auch immer er beizusteuern in der Lage ist.

Im Hinblick auf das Beschäftigungsniveau, das Sozialprodukt, das Gesamteinkommen der Geringverdiener, die Verwendung der kommunalen Arbeit und nicht zuletzt die Rechtssicherheit ist der ifo- Vorschlag besser als Hartz IV. Gegen die Verwendung des Namens Hartz V bestehen aber keine Einwände, zumal schon Hartz IV mehr mit dem ifo-Modell als mit den Empfehlungen der Hartz- Kommission zu tun hat.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "Wenn sich Arbeit nicht mehr lohnt", Die Zeit, Nr. 46, 4. November 2004, S. 23.