ifo Standpunkt Nr. 64: Warum Mindestlöhne Deutschland schaden

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 14. April 2005

Niedriglöhner aus aller Welt buhlen um das deutsche Investitionskapital, und nun drängen osteuropäische Niedriglöhner in unser Land und machen den deutschen Arbeitnehmern direkt Konkurrenz. Die Regierung will Deutschland durch Mindestlöhne schützen. Durch eine Ausweitung des Entsendegesetzes auf alle Branchen will sie Ausländer, die in Deutschland Dienstleistungen erbringen, zwingen, zu Tariflöhnen zu arbeiten. Die Regierung will die deutschen Arbeitnehmer vor Lohndumping schützen, doch sie schadet damit dem Land und treibt es weiter auf dem Irrweg einer seit Jahrzehnten überzogenen Lohnpolitik voran.

Das zentrale Argument gegen die Mindestlöhne ist einfach, doch wenig bekannt. Wenn die Polen bereit sind, billig für die Deutschen zu arbeiten, haben die deutschen Kunden den Vorteil. Handwerksleistungen, der Service in Gaststätten und viele andere Güter und Dienstleistungen werden billiger. Das Realeinkommen der Deutschen steigt, und viele Arbeiten, die sonst unterblieben wären, können realisiert werden. Die Wirtschaft wächst. Natürlich haben die einheimischen Arbeitskräfte, die direkt mit den Polen konkurrieren, einen Nachteil, weil ihre Löhne unter Druck kommen. Doch ist das kein volkswirtschaftlicher Nachteil, weil ihm ein bis auf den letzten Cent identischer Vorteil der Kunden und Arbeitgeber der einheimischen Arbeitskräfte gegenüber steht. Mindestlöhne würden zwar den Handwerkern helfen, doch die Vorteile abblocken, die Deutschland im Ganzen durch die billigen polnischen Arbeitnehmer hätte.

Im Übrigen wird das Entsendegesetz ohnehin unterlaufen, weil man die Stundenlöhne der entsandten Arbeitskräfte nicht wirklich kontrollieren kann. Die Tariflöhne werden zwar formell eingehalten, doch arbeitet man länger als offiziell angegeben. Im Endeffekt verknappen Mindestlöhne das Angebot polnischer Arbeitskräfte in Deutschland nur ein wenig und ermöglichen es ihnen, sich zum Schaden ihrer deutschen Arbeitgeber und Kunden in Deutschland besser zu verkaufen, als es andernfalls möglich gewesen wäre. Den Polen wird in ähnlicher Weise geholfen, als wenn man ihnen gestatten würde, sich zu einem großen Tarifkartell zu Lasten Deutschlands zusammenzuschließen.

Wer die Ausländer zwingt, zu Tariflöhnen in Deutschland zu arbeiten, vertreibt die deutschen Firmen nur noch schneller ins Ausland. Deutschland hat die zweitniedrigste Investitionsquote der OECDLänder, und sein Kapitalexport lag im Jahr 2004 bei fast 4% seines Bruttoinlandsprodukts. Die Investitionen schrumpften um 0,9%, obwohl sie angesichts des Booms der Weltwirtschaft eigentlich um 8% hätten steigen müssen. Diese alarmierende Entwicklung würde nur noch weiter beschleunigt. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit würde sich weiter fortsetzen und liefe Gefahr, außer Kontrolle zu geraten.

Würde man gar noch, wie es erwogen wird, neue Allgemeinverbindlichkeitserklärungen aussprechen, schadete das insbesondere den neuen Bundesländern extrem. Dort spielen Tariflöhne vielfach keine Rolle mehr, und genau deshalb beginnen dort einige Pflänzlein zu blühen. Die Löhne durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung breitflächig wieder dem Tarifdiktat zu unterwerfen hieße, ganze Landstriche veröden zu lassen.

Eine größere Lohnstarrheit drängt einen immer größeren Anteil der erwerbsfähigen Deutschen aus dem Arbeitsmarkt in die Sozialsysteme. Diesen Weg ist Deutschland nun schon über dreißig Jahre gegangen, weil die wachsenden Sozialleistungen wie Mindestlöhne gewirkt haben. Er lässt sich nicht mehr durchhalten, denn Deutschlands Wirtschaft fällt zurück, und der Staat hat schon jetzt kein Geld mehr. Die Politik hat nicht die Macht, die ökonomischen Gesetze aufzuheben, und mag sie auch noch so sehr zetern. Herrn Münteferings moralische Entrüstung über ökonomische Gesetze könnte sich genauso gut gegen das Gesetz der Schwerkraft richten.

Nur ein Weg ist möglich: die Lohnkonkurrenz der Osteuropäer akzeptieren, dem Lohndruck nachgeben und die Geringverdiener durch dauerhafte persönliche Lohnzuschüsse unterstützen. Die Aktivierende Sozialhilfe des ifo Instituts, die ja auch der Bundespräsident der Politik empfohlen hat, weist den Weg dazu. Ausgehend von Hartz IV müsste man das Arbeitslosengeld II so umgestalten, dass daraus faktisch ein Lohnzuschuss wird. Der Tarif muss so gestaltet sein, dass man das meiste Geld vom Staat bekommt, wenn man mindestens auf einer Halbtagsstelle im privaten Sektor arbeitet, und nicht, wenn man nicht arbeitet.

Um die fiskalischen Lasten auszugleichen, muss man freilich den Eckregelsatz etwas zurücknehmen, was aus sozialen Gründen nur geht, sofern zumindest Ein-Euro-Jobs zur Verfügung stehen. Für Ein-Euro-Jobs sollte man den einen Euro und das Arbeitslosengeld II in heutiger Höhe erhalten, wenn man bereit ist, als Leiharbeiter in der privaten Wirtschaft zu arbeiten. Nur so kann der Staat die Geringverdiener für die Konkurrenz mit den Polen fit machen, ohne ihnen polnische Einkommen zuzumuten. Andere Wege gibt es nicht.

Die Politik nennt die Lohnkonkurrenz der Osteuropäer Dumping. Das ist eine Begriffsverwirrung. Dumping ist eine Preissenkung unter die eigenen Kosten, nicht unter die Kosten der Wettbewerber. Erst wenn die Polen bei uns billiger arbeiten würden, als sie es in Polen tun, läge nach volkswirtschaftlicher Definition Dumping vor. Lohnwettbewerb ist das Lebenselixier der Marktwirtschaft und kein Dumping. Wann nur begreifen die Deutschen die Regeln der Marktwirtschaft? Wie weit wollen wir uns noch auf der abschüssigen Bahn voranbewegen, bis wir merken, dass es bald kein Halten mehr gibt?

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "Warum Mindestlöhne Deutschland schaden", Handelsblatt, Nr. 72, 14. April 2005, S. 9.