ifo Standpunkt Nr. 94: Wenn Banken mit „Zitronen“ handeln

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 19. Mai 2008

Nach der Weltschuldenkrise von 1982, der Sparkassenkrise in den USA Ende der 1980er Jahre und der asiatischen Finanzkrise von 1997 ist die Subprime-Hypothekenkrise die vierte große Bankenkrise seit dem Zweiten Weltkrieg – und bei weitem die schwerste. Laut IWF werden die Abschreibungen in den Bilanzen weltweit fast eine Billion Dollar betragen, wobei der Löwenanteil davon auf US-Finanzinstitute entfallen dürfte. Vorsichtigere Schätzungen gehen von einem Gesamtverlust von 400 Milliarden Dollar aus. Angesichts der Tatsache, dass das gesamte Eigenkapital aller US-Finanzinstitute nur rund 1,2 Billionen Dollar beträgt, sind beides atemberaubende Zahlen.

Warum kommt es zu Bankkrisen? Sind Bankmanager dumm? Warum übernehmen sie Risiken, die ihre Banken an den Rand des Ruins führen? Die Antwort liegt im Zusammenwirken eines schlechten Bilanzierungssystems mit verschiedenen Moral-Hazard-Effekten, die durch die bestehenden Aufsichtssysteme nicht eingedämmt werden können.

Das schlechte Bilanzierungssystem, das inzwischen von Großunternehmen weltweit verwendet wird, ist der International Financial Reporting Standard (IFRS). Das Manko des IFRS besteht darin, dass er die systematische Ansteckung infolge von Kursschwankungen nicht dämpft. Wenn es bei Wertpapieren zu Kursschwankungen kommt, müssen die Unternehmen, die diese Wertpapiere besitzen, in ihren Büchern Quartal für Quartal Wertberichtigungen vornehmen. Die ständige Berichtspflicht über nichtrealisierte Wertzuwächse und –verluste führt deshalb zu einer Übertragung der Kursschwankungen zwischen den Unternehmen und sendet Schockwellen durch das Finanzsystem.

Eine Alternative wären vorsichtigere Bilanzierungsregeln, wie sie von allen deutschen Unternehmen früher verwendet wurden und bei den meisten auch noch heute in Gebrauch sind. Nach dem traditionellen deutschen Bilanzrecht mussten die Vermögenswerte eines Unternehmens nach dem Niederstwertprinzip bewertet werden. Wich der Marktwert eines Wertpapiers von seinem historischen Ankaufswert ab, so ging stets der niedrigere Wert in die Bilanz ein. Dies erlaubte es der Geschäftsleitung, langfristige Ziele zu verfolgen, und erwies sich als wirksamer Schutz gegen Ansteckungseffekte. Tatsächlich war dies einer der wichtigsten Gründe für die Stabilität des deutschen Finanzsystems.

In der gegenwärtigen Krise sind drei Moral-Hazard-Effekte von besonderer Bedeutung: Erstens ist die Vergütung des Managements infolge des übermäßigen Einflusses der Investmentbanken auf die Politik der Geschäftsbanken stark von der kurzfristigen Entwicklung des Aktienkurses abhängig. Investmentbanken können hohe Renditen nur in einer Welt volatiler Anlagekurse und kurzfristiger Performanceziele erreichen, und über sie wird in den Unternehmen Druck auf die Manager erzeugt, sich an eher kurzfristigen Zielen zu orientieren.

Zweitens gehen Banken übermäßige Anlagerisiken ein, weil sie davon ausgehen, dass ihnen der Staat wenn nötig schon aus der Patsche helfen wird. So war es im Fall der amerikanischen Sparkassenkrise, als die US-Regierung sogar explizit für die Sicherheit der Einlagen bürgte. Die Banken konnten übermäßig riskante Projekte übernehmen, ohne ihre Anleger zu verschrecken, weil der Staat zur Kreditsicherung bereit stand.

Während der Subprime-Krise war implizit ein ähnliches Phänomen am Werk: Die Banken spekulierten darauf, dass sie zu groß waren, als dass der Staat sie würde in Konkurs gehen lassen. Die Tatsache, dass die englische Zentralbank Northern Rock aus der Bredouille half und die US Federal Reserve Bear Stearns mit 30 Milliarden Dollar rettete, zeigt, wie richtig sie damit lagen.

Das dritte und vermutlich wichtigste Moral-Hazard-Problem resultiert aus der asymmetrischen Informationsverteilung zwischen den Banken und ihren Kreditgebern. Banken geben Wertpapiere mit attraktivem Nominalzins, aber unbekannter Rückzahlungswahrscheinlichkeit aus. Häufig werden dabei Wertpapiere geschaffen, die mit komplexen, aus guten und schlechten Anlagewerten bestehenden Portfolios unterlegt sind, deren wahre Risiken nur schwer einzuschätzen sind. In der gegenwärtigen Krise unterschätzten selbst die privaten Rating-Agenturen die vorhandenen Risiken gewaltig, was dazu beitrug, dass Geldanleger auf der ganzen Welt viel zu hohe Preise für die hypothekenbesicherten Wertpapiere der US-Emittenten zahlten.

Also gab es nichts, das die Banken hinderte, minderwertige Anleihen zu verkaufen. Wie bei Gebrauchtwagen, die gleich nach dem Kauf liegen bleiben, Tomaten und Äpfeln, die gut aussehen, aber wässrig schmecken, oder Anzügen, die nach kürzester Zeit durchscheuern, haben die Verkäufer auch hier die Produktqualität gemindert und die Kosten gesenkt, ohne dass die Käufer es vor dem Kauf merken konnten. Und da minderwertige Produkte sich zum selben Preis verkauften wie hochwertige, verschwanden letztere vom Markt. In der Ökonomie hat sich hierfür der Begriff des Zitronenhandels eingebürgert, denn die Zitrone steht in Amerika für schlechte alte Autos. Statt guter Anleihen haben die Banken Zitronen verkauft.

Auf den Kapitalmärkten ist das Problem der asymmetrischen Informationsverteilung zwischen Käufern und Verkäufern besonders gravierend. Banken sehen sich deshalb stets der Versuchung ausgesetzt, zur Steigerung des eigenen Gewinns Wertpapiere auszugeben, deren Rückzahlungswahrscheinlichkeit unter dem von den Käufern erwarteten Niveau liegt. Zu diesem Zweck entwickeln sie komplizierte rechtliche Forderungsstrukturen, die kaum jemand völlig durchschaut, und operieren ohne ausreichendes Eigenkapital zur Abdeckung der Risiken. Dies zerstört den Markt für solide Finanzierungsinstrumente und untergräbt die Fundamente des kapitalistischen Systems.

Um diesem Problem zu begegnen, bedarf es einer strengeren Bankenaufsicht, die darauf hinwirkt, die Rückzahlungswahrscheinlichkeit und damit auch die Wertpapierqualität zu erhöhen. Finanzprodukte müssen transparent gemacht werden; außerbilanzielle Aktivitäten müssen beschränkt werden; und vor allem muss der Umfang fremdfinanzierter Aktivitäten verringert werden, indem eine höhere Eigenkapitalquote vorgeschrieben wird. Die Banken lehnen das zwar ab, weil aus ihrer Sicht Eigenkapital teurer ist als Fremdkapital. Aber das ist gerade nur wegen des „Zitroneneffekts“ der Fall und kann nicht als volkswirtschaftlich akzeptables Gegenargument angeführt werden.

Der IWF, die G7 oder eine gemeinsame amerikanisch-europäische Institution wären vermutlich das passende Forum, neue Regeln für Finanzmärkte zu entwickeln und so die Effizienz und Stabilität der Weltwirtschaft zu stärken. Im Gegensatz dazu wäre der Versuch, solche Regeln unilateral von jedem Staat für sich festzulegen, das Rezept für ein Fiasko. Denn der Wettbewerb zwischen den Staaten mit dem Ziel, den eigenen Banken Vorteile zu sichern, würde nur wieder dieselben unzureichenden Regulierungssysteme erzeugen, die den Zitronenhandel ursprünglich hervorgebracht haben.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel „Wenn Banken mit Zitronen handeln“, Börsen-Zeitung, Nr. 81, 26. April 2008, S. 7; in ähnlicher Form erschienen in Les Echos (Mali), The Australian Financial Review (Australien), The Independent (Bangladesch), The Financial Express (Indien), Jakarta Post (Indonesien), The Japan Times (Japan), The Korea Herald (Korea), Business World (Philippinen), L`Echo (Belgien), Dnevnik (Bulgarien), Poslovni Dnevnik (Kroatien), Aripaev (Estland), Taloussanomat (Finnland), Vilaggazdasag (Ungarn), Tageblatt (Luxemburg), Logos Press (Moldawien), Het Financieele Dagblad (Niederlande), Diario Economico (Portugal), Tyzden (Slowakei), Expansion (Spanien), L'Agefi (Schweiz), La Prensa (Panama), Al Tijaria (Bahrain), Al Jarida (Kuwait), Al Raya (Qatar), Diario Las Americas (USA), The International Economy (USA).