ifo Standpunkt Nr. 98: Atomkraft: Geisterfahrer Deutschland

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 22. Juli 2008

Michel fährt auf der Autobahn und hört Radio. Da sagt die Stimme des Sprechers: „Achtung, Achtung. Auf der Autobahn kommt Ihnen ein Geisterfahrer entgegen.“ Michel ruft daraufhin erzürnt: „Von wegen nur einer. Ganz viele!“ Michel ist Deutschland, und die Autobahn ist die Atomkraft.

Außer Deutschland hält nämlich kein einziges Land mehr am Atomausstieg fest. In Schweden, das schon im Jahr 1980 den Ausstieg propagiert hatte und das in den Jahren 1999 und 2005 tatsächlich zwei Atomkraftwerke schloss, sind weitere Schließungen in weite Ferne gerückt. Die zehn noch bestehenden Reaktoren sind so aufwendig modernisiert worden, dass der planmäßige Ausstieg damit praktisch ausgeschlossen ist. 80 Prozent der Bevölkerung bejahen die Atomkraft. In Belgien wurde 2005 entschieden, den Ausstiegsbeschluss von 1999 rückgängig zu machen. Genauso hat Holland seinen Ausstiegsbeschluss von 1994 im Jahr 2005 wieder kassiert. Das Land will bis 2015 vier neue Atomkraftwerke bauen. Italien hatte seine Reaktoren 1990 abgeschaltet und will nun wieder vier neue bauen. Finnland, das man gedanklich gerne unter die Atomkraftgegner einreiht, baut zurzeit bei Olkiluoto das größte Atomkraftwerk aller Zeiten mit einer Gesamtkapazität von 1600 Megawatt. Großbritannien plant zwar, vier Atomkraftwerke abzuschalten, doch zugleich will es sechs neue bauen. China plant 24, die USA 12 und Japan 11 neue Reaktoren. Selbst Indien will 10 neue Kraftwerke bauen. Tschechien will direkt an der deutschen Grenze bei Temelin einen zweiten Reaktor bauen, und die Schweiz plant an Deutschlands Südgrenze auch einen neuen Atommeiler. Zum Glück haben wir noch die Österreicher, unsere Geistesnachbarn im Süden. Österreich will keine Atomkraft. Aber Österreich kann nicht aussteigen, weil es schon vor zwanzig Jahren ausgestiegen ist.

Deutschlands Idealisten hat es nie gestört, wenn sie auf dem Geisterkurs fuhren. Ohne Common Sense und immer zutiefst davon überzeugt, dass die Welt am deutschen Wesen genesen soll, sind die Deutschen schon häufiger in der Geschichte geradeaus gelaufen, bis sie sich eine blutige Nase holten. Das Land musste unter den Auswüchsen des Patriotismus und Sozialismus leiden, und nun leidet es unter den Auswüchsen des grünen Idealismus. Es ist immer eine andere Meinung, mit der wir die Welt gerade beglücken wollen, aber immer liegen nur wir richtig, und alle anderen liegen falsch.

28 Prozent des Windstroms dieser Welt werden in Deutschland produziert, 48% des photovoltaischen Stroms und 45 Prozent des Biodiesels. In jeder dieser Kategorien liegt Deutschland mit weitem Abstand vor allen anderen Ländern dieser Erde an der Spitze. Wir zeigen es ihnen wieder einmal.

Der grüne Starrsinn kostet indes irrsinnig viel Geld. Allein die Photovoltaik hat schon 26 Mrd. Euro an öffentlichen Zuschüssen gekostet und hätte bis 2015 in der Summe 120 Mrd. gekostet, wenn nicht der Bundestag gerade beschlossen hätte, die Fördersätze um zehn Cent zu kürzen. Der Strom ist heute aber immer noch zehnmal so teuer wie normaler Strom, und es werden zig Milliarden Euro an Kosten verbleiben. Derzeit deckt der photovoltaische Strom gerade mal ein halbes Prozent der Stromversorgung der Bundesrepublik Deutschland ab, während ein gutes Viertel des gesamten Stroms aus Atomreaktoren kommt. In Frankreich liefert die Atomindustrie rund 80% des Stroms.

Dass die Bio-Energie ein Flop ist, haben mittlerweile die Meisten begriffen. Nie wird es den Grünen gelingen, die Armen dieser Welt davon zu überzeugen, dass die Nahrungsmittel in den Tank statt auf den Teller gehören. Die politische Schlacht ist schon verloren, bevor sie begann.

Was bleibt, sind die Windflügel. Die sind dabei, sich der Wettbewerbsfähigkeit zu nähern. Aber obwohl die Windflügel nur wenig mehr als ein Zwanzigstel des deutschen Stroms liefern, sind unsere Naturlandschaften eigentlich schon genug verschandelt, und der Platz im Meer wurde schon an die Ölgesellschaften verkauft. Wo also sollen sie stehen? In meinem Garten bitte nicht, und auch nicht neben den idyllischen Bauernhäusern meiner Heimat.

Und wenn man das Kohlendioxid, das bei der Kohle entsteht, unter hohem Druck verflüssigt und in Erdlöcher pumpt? Tolle Idee. Das flüssige Kohlendioxid braucht etwa 5,4 mal so viel Platz wie die Steinkohle, die verbrannt wurde, oder 1,35 mal so viel Platz wie die Braunkohle, und für die Sequestrierung von Kohlendioxid braucht man selbst wiederum noch ein Drittel mehr Energie. Wo soll der Platz bitte sein? Die leeren Gaslager sind schon als Zwischenspeicher für Erdgas belegt. Um das jährlich entstehende flüssige Kohlendioxid aus einem Braunkohle-Kraftwerk mit der gleichen Netto-Kapazität wie Biblis zu lagern, braucht man einen Platz von rund 37 Millionen Kubikmetern oder rund 11.000 Güterzügen pro Jahr. Um die Brennstäbe einer Jahresproduktion von Biblis abzutransportieren, braucht man gerade mal einen einzigen Castor-Transport mit vier Transportbehältern. Und wer möchte schon über einem Kohlendioxid-Lager leben? Kohlendioxid ist schwerer als Luft. Wer darüber wohnt, wenn es rauskommt, kann sich genauso gut in den Weinkeller schlafen legen.

Illusionen und fehlender Pragmatismus, wohin man schaut. Das ist die grüne Idealistenrepublik Deutschland. Wie wäre es, wenn die Bürger selbst entscheiden, wie sie das Weltklima retten wollen. Sollen doch die Kraftwerke die verschiedenen Typen von CO2-freiem Strom zu kostengerechten Preisen verkaufen. Wetten, dass der Atomstrom das Rennen machen würde?

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel „Geisterfahrer Deutschland“, WirtschaftsWoche, Nr. 30, 21. Juli 2008, S. 35.