ifo Standpunkt Nr. 139: Die Logik der Target-Falle

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 30. November 2012

Früher war der sperrige Begriff der Target-Salden selbst vielen wirtschaftlich Interessierten unbekannt. Doch im Zuge der Eurokrise sind die Target-Salden zu einem öffentlich diskutierten Streitpunkt geworden. Es geht um überbordende Geldüberweisungen vom Süden in den Norden der Eurozone. Diese entstehen dadurch, dass die Europäische Zentralbank (EZB) den Banken des Südens und ihren Kunden ermöglicht, sich unter Verwendung immer schlechterer Sicherheiten immer mehr Geld von ihren Notenbanken zu leihen – um damit im Norden Güter zu kaufen, Schulden zu tilgen und Investitionen zu tätigen.

Warum ist das ein Problem? Aus Sicht der nordeuropäischen Banken sind die stark gestiegenen Target-Salden dadurch zustande gekommen, dass sie sich gegenüber den billigen Konkurrenzangeboten aus der Druckerpresse, die die Notenbanken des Südens ihrer Wirtschaft machten, geschlagen geben mussten – und das Geld der Sparer lieber den eigenen Notenbanken anboten. So haben allein die deutschen Geschäftsbanken um die 700 Milliarden Euro zur Bundesbank getragen, das ist genauso viel, wie die Bundesbank den anderen Notenbanken an Kredit gab. Statt marktfähiger, gut verzinster Forderungen erhielt Deutschland für seine Exportüberschüsse damit bloß noch Target-Forderungen: Forderungen, die sich in Luft auflösen, sollte der Euro zerbrechen, und durch die Inflation auch dann verdampfen, wenn die Dinge weiterlaufen wie bisher. Selbst wenn der Crash ausbleibt, macht die EZB-Politik den Sparern, ihren Banken sowie den Lebensversicherern die Zinsen kaputt.

Die Target-Salden sind nicht nur Symptom und Fieberthermometer der Krise, sondern ganz konkret ein Maß für den öffentlichen Kredit, der über das EZB-System an die Südländer geflossen ist. Zusammen mit den Staatspapierkäufen der EZB liegt dieser Kredit beim Vierfachen aller bislang vergebenen Rettungskredite, die die nationalen Parlamente, die EU-Kommission und der Internationale Währungsfonds (IWF) beschlossen haben. Hätten wir bei uns ein System wie in den USA, müssten die Target-Schuldner ihre Verbindlichkeiten gegenüber der Notenbank durch die Übergabe von hochverzinslichen Wertpapieren tilgen. Und befänden wir uns noch im Bretton-Woods-System, also dem Festkurssystem, das die Länder des Westens bis 1973 verband, würden die deutschen Target-Salden wie damals sogar mit Gold getilgt.

Es liegt in der Logik der Target- Falle, in die Deutschland geraten ist, dass Deutschland eigentlich froh sein muss, wenn die Bundesbank ihre Target-Kredite durch Staatspapierkäufe ersetzen kann. Denn diese hochumstrittenen Käufe lassen die Staatspapiere aus den südlichen Ländern wieder in die nördlichen Staaten wandern und transportieren somit Geld in den Süden. Dadurch fallen die Target-Salden wieder. Der Target-Kredit wird durch einen offenen Kredit der Notenbanken ersetzt und die Buchforderung der Bundesbank in einen fungiblen Vermögenstitel umgetauscht, der im Gegensatz zur Target-Forderung auch im Falle des Zusammenbruchs des Eurosystems seinen Wert behält. Ich wette, dass genau dies das Argument war, mit dem Mario Draghi die Bundesregierung hat überzeugen können, die Staatspapierkäufe durch die Mitgliedsnotenbanken des Eurosystems zu tolerieren – jene Aktion, gegen die sich der deutsche Bundesbank-Präsident Jens Weidmann vergeblich gestemmt hatte.

Sogar noch besser als Staatspapierkäufe durch die EZB ist aus deutscher Sicht ein Staatspapiererwerb durch den dauerhaften Stabilitätsmechanismus ESM, der jüngst nach einer langen Hängepartie vor dem Bundesverfassungsgericht in Kraft getreten ist. Im Gegensatz zum EZB-Rat ist die Bundesrepublik im Gouverneursrat des ESM nämlich mit einem Stimmgewicht vertreten, das ihrem Haftungsanteil von 27 Prozent entspricht. Dort kann sie mithin nicht wie Jens Weidmann im EZB-Rat überstimmt werden. Dieser Sachverhalt hat den Bundestag bei den Beratungen zum ESM-Vertrag maßgeblich bewegt, dem Vertrag zuzustimmen.

Nach Lage der Dinge muss man jedoch davon ausgehen, dass der politische Rettungsaktionismus beim ESM nicht haltmacht. Irgendwann wird trotz Hebelung die Kapazität des neuen Rettungsschirms erschöpft sein. Dann müssen weitere Milliarden her. Da das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil die Bankenlizenz für den ESM kassiert hat, müsste die Bundesregierung erneut an das Parlament herantreten. Dem damit verbundenen Ärger dürfte sie auszuweichen versuchen, indem sie ihren Widerstand gegen Euro-Bonds aufgibt. Kommen nämlich die Gemeinschaftsanleihen, wäre erst einmal Ruhe – bis sich zeigt, dass die niedrigen Zinsen abermals von Schuldenländern ausgenutzt werden, der Reformeifer erlahmt und sich fehlende Wettbewerbsfähigkeit verfestigt.

Die Target-Kredite haben eine öffentliche Kreditlawine nach Südeuropa in Gang gesetzt, die sich politisch nicht mehr stoppen lässt. Es sei denn, man bekämpft das Problem an der Wurzel – bei der EZB selbst.

Erschienen unter dem Titel „Fieberthermometer der Krise“, Wirtschaftswoche, Nr. 43, 22. Oktober 2012, S. 44.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner Sinn
Präsident a.D. des ifo Instituts