Deutschland braucht etwas mehr Inflation

Hans-Werner Sinn

Interview, weser-kurier.de, 28. Oktober 2015.

Nachzulesen unter www.weser-kurier.de

Erstaunlich offen redet Hans-Werner Sinn darüber, wie ihn die Attacken auf seine Personen treffen. In der Tat wurde es in der Debatte über Sinns Thesen zu Löhnen, Euro oder Sozialleistungen oft persönlich. Hier begründet der Ifo-Chef im Gespräch mit Markus Sievers sachlich, warum er den Mindestlohn für schädlich und den Euro-Austritt Griechenlands für sinnvoll hält. Und warum Deutschland dennoch jetzt Lohnerhöhungen braucht.

Um Griechenland ist es ruhig geworden. Ist das Schlimmste überstanden?

Hans-Werner Sinn: Die Eurokrise kommt in Wellen, wenn den Griechen und anderen das Geld ausgeht. Zwischendrin macht sich die Illusion breit, man habe die Krise überwunden.

Warum ist die Eurokrise so hartnäckig und überlebt alle Rettungsprogramme?

Das wahre Problem ist: Manche Länder sind durch die inflationäre Kreditblase, die der Euro bei ihnen ausgelöst hat, zu teuer geworden. Indem sie ihre Löhne mit Hilfe ausländischer Kredite erhöhten, haben sie an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Dieses Fundamentalproblem lässt sich nicht mit geliehenem oder geschenktem Geld aus der Welt schaffen. Die Rettungsprogramme führen nur dazu, dass die nötige Umstellung verzögert wird.

Was schlagen Sie vor?

Die Lohnentwicklung muss hinter der Produktivitätsentwicklung zurück bleiben, so dass auch die Preise langsamer als in den nördlichen Euroländern steigen. Nur so lässt sich die Wettbewerbsfähigkeit wieder steigern. Doch das findet nicht statt, wenn die Rettungsgelder reichlich fließen. Von ihrem Lebensstandard wollen die Südeuropäer nicht mehr herunter. Wenn man sich aber mehr zubilligt, als man selbst erzeugen kann, ist man auf den Zufluss aus dem Ausland angewiesen.

Die Hilfsprogramme sind aber an Auflagen geknüpft. Die Geldgeber verlangen ja gerade eine Umstellung der Wirtschaft.

So heißt es. Was die Politik hier verkündet, ist aber unglaubwürdig. Reformen packt man nur an, wenn man muss. So aber nehmen die Krisenländer die Milliarden und unterlaufen die Bedingungen. Das Experiment läuft ja seit fünf Jahren. Und was hat Griechenland an Reformen durchgeführt? Nichts, jedenfalls nichts von Belang.

Zum Beispiel sind die Löhne massiv gesunken. Die Löhne können nicht der einzige Grund sein, warum in Griechenland niemand investieren möchte.

Richtig. Doch gibt es für jeden Standort ein Lohnniveau, zu dem er wettbewerbsfähig ist. In Griechenland liegen die Löhne bei 15 Euro die Stunde, in Rumänien und Bulgarien bei drei bis vier Euro, in der Türkei bei fünf Euro. Wer will da investieren?

Sollen die Griechen ihre Löhne noch mehr senken?

Im Euro kriegt man das nicht hin. Wenn man die Löhne senken wollte, könnten die Leute ihre Mieten nicht mehr bezahlen und die Kredite nicht bedienen. Es würde Konkurse hageln. Der Austritt aus dem Euro und die Abwertung sind die bessere Lösung. Dann fallen die Löhne in Euro gerechnet, aber Mieten, Kredite und Preise fallen auch. Die Arbeiter können weiter ihre Familien ernähren und auch einmal ins Restaurant gehen. Nur die Importe werden teurer, und das ist gut so, denn die Leute sollen heimische Ware kaufen, damit die Wirtschaft wieder in Schwung kommt.

Die Angst vor einem Grexit ist noch immer groß, auch bei vielen Kollegen von Ihnen wie DIW-Chef Marcel Fratzscher und anderen. Wie groß ist die Gefahr einer Kettenreaktion, bei der die Währungsunion zerstört würde?

Das ist nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance. Wenn man Angst davor haben muss, dass die Kapitalmärkte einem das Vertrauen entziehen, wenn man unsolide wirtschaftet, dann bringt man seine Finanzen in Ordnung. Auch Portugal würde sein Budget dann in Ordnung bringen statt immer mehr Schulden zu machen. Wenn wir Griechenland unter allen Umständen im Euro halten, zeigt dies anderen Ländern, dass auch sie in die Vollen gehen dürfen. Sie können dann Schulden aufnehmen, die nicht tragfähig ist. Die Kapitalmärkte stellen Haushaltsdisziplin sicher, wenn wir sie lassen. Wenn wir sie ausschalten durch kollektive Schutzsysteme, endet dies in einer Schuldenlawine, die uns alle in den Abgrund zieht.

Die Neuwahlen haben die alte Regierung in Athen bestätigt. Trauen Sie Alexis Tsipras zu, die geforderten Reformen und Einsparungen anzupacken. Trauen Sie der Regierung das zu?

Nein. Sie werden die notwendigen massiven Rentenkürzungen nur realisieren, wenn sie kein Geld für Renten haben. Wenn sie weiter Geld kriegen, werden sie stattdessen nur irgendwelche Pro-Forma-Reformen machen, die nicht sonderlich schmerzen, gerade genug, um good will kommunizieren zu können.

In Ihrem neuen Buch räumen Sie ein, als junger Ökonom zu den Euro-Befürwortern gehört und die Warnungen älterer Kollegen ignoriert zu haben. Würden Sie sich als Euro-Gegner bezeichnen?

Nein. Ich bin nicht für die Abschaffung des Euro. Heute bin ich zwar überzeugt, dass die Einführung ein Fehler war. Insofern muss ich meine frühere Einschätzung korrigieren. Aber nun hat man ihn eingeführt. Daher sollte man ihn jetzt retten.

Sie haben immer wieder hitzige Debatten provoziert. Anfang des Jahres griff Sie die Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“ scharf an und warf Ihnen schwere Irrtümer vor. Treffen Sie solche persönliche Attacken?

Ja. Das war eine von langer Hand geplante Diskreditierungskampagne, die von höchster Stelle kam. Sie zielte darauf, eine kritische Stimme kaputt zu machen, statt ernsthafte Gegenargumente zu liefern. Leider haben wir in Deutschland wenig Streitkultur. Wenn die Argumente unangenehm werden, haut man auf die Person.

Anfang der 90er-Jahre fragten Sie: „Ist Deutschland noch zu retten?“. Später brandmarkten Sie Deutschlands erfolgreiche Exportwirtschaft als Basarökonomie. Hat Sie der enorme Aufschwung Deutschlands widerlegt?

Wie sollte er das? Die Basarthese ist immer verballhornt worden. Als Autor habe ich vergeblich gegen die Falschdarstellung in den Medien gekämpft. Der bloße Begriff hat sich in den Köpfen der Kritiker verselbstständigt. Anders als behauptet habe ich nicht erklärt, Deutschland breche die Wertschöpfung im Export weg. Ganz im Gegenteil: Die These war, dass Deutschland zu viele Produktionsfaktoren in die kundennahen Endstufen der Exportproduktion steckt und deshalb zulasten anderer Sektoren zu viel Wertschöpfung im Export bei zu hohen Exportmengen erzeugt. Ich habe das als pathologischen Exportboom bezeichnet. Kritiker warfen mir dennoch vor, ich hätte die deutsche Exportstärke kleingeredet. Das ist geradezu grotesk. Wir sind nach wie vor zu exportlastig.

Dennoch waren vor zehn, 15 Jahren Untergangsszenarien in Mode – mit Ihrer tatkräftigen Beteiligung. Diese düsteren Prognosen haben sich als falsch herausgestellt.

Die Debatten in der Zeit vor der Agenda 2010 drehten sich um eklatante Schwierigkeiten des Standortes. Deutschland litt unter zu niedrigen Investitionen. Wir hatten im Verarbeitenden Gewerbe die höchsten Stundenlöhne der Welt. Die deutschen Firmen investierten in Osteuropa. Die deutschen Banken legten die Ersparnisse in Südeuropa und in Amerika in strukturierten Finanzprodukten an. Die Arbeitslosigkeit war seit der Kanzlerschaft von Willy Brandt treppenweise immer weiter gestiegen. Die Diagnose einer eklatanten Standortschwäche war absolut richtig.

Gerade die deutsche Industrie war doch stärker als vielfach behauptet.

Nein, sie war damals in der Krise. Die heutige Stärke konnte sie aber erst durch die Agenda 2010 entfalten. Mit der Agenda 2010, mit mutigen Reformen, hat Kanzler Gerhard Schröder (SPD) das Ruder herumgerissen. Die Löhne sind relativ zur Produktivität und zu den Konkurrenzländern gesunken. Dadurch wurden die deutschen Arbeiter allmählich wieder wettbewerbsfähig. Die Arbeitslosigkeit hat sich mehr als halbiert. Die heutige Regierung verfrühstückt allerdings diese Errungenschaften. Sie führt den Mindestlohn ein, macht die Erhöhung des Rentenalters wieder rückgängig. Von solchen rückwärtsgewandten Reformen kann man sich nicht beliebig viele leisten.

Nun hat der Mindestlohn aber gar nicht die Arbeitslosigkeit erhöht. Im Gegenteil läuft die Wirtschaft und die Firmen stellen ein.

Ja, noch, weil wir in einer Boomphase sind. Die wird aber auch wieder enden. Die Reaktionen der Wirtschaft brauchen ihre Zeit. Wir hatten bis zu den Agenda-Reformen von Kanzler Schröder einen impliziten Mindestlohn, weil die Sozialtransfers viele Jobs unattraktiv machten. Nachdem Schröder diesen impliziten Mindestlohn am Beginn des Jahres 2004 abschaffte, dauerte es mehr als eineinhalb Jahre, bis nach der Sommerpause des Jahres 2005, als die ersten Statistiken bekannt wurden, die darauf hindeuteten, dass die Arbeitslosigkeit sank. Sollte jetzt der Arbeitsplatzabbau im selben Tempo geschehen wie damals der Aufbau unter Schröder, müssten wir nach dem Sommer 2016 die ersten Effekte des Mindestlohns erkennen. Der volle Effekt der Schröderschen Reformen trat damals übrigens erst nach sieben Jahren ein.

Die Firmen zahlen aber seit Januar den Mindestlohn. Sie müssten nach Ihrer Theorie die Leute längst entlassen haben.

Nein, eben nicht. Die Firmen, deren Geschäftsmodell mit einem Mindestlohn nicht mehr funktioniert, haben ja noch Eigenkapital. Sie gehen zu ihren Banken und kriegen zunächst noch Geld. Damit halten sie sich eine Weile über Wasser. So verzögert sich die Reaktion. Es dauert seine Zeit, bis sie einsehen, dass ihre Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren.

Derzeit aber brummt der Arbeitsmarkt. Dürfen wenigstens jetzt die Löhne steigen?

Unten nicht. Im mittleren Bereich aber schon. Nachfragegetriebene Lohnsteigerungen in Deutschland sind die einzige Chance, Europa wieder ins Lot zu bringen. Deutschland ist zu billig geworden und braucht etwas mehr Inflation und stärkere Lohnsteigerungen als andere Euro-Länder. Nur so können Griechenland und Co. aufholen und wettbewerbsfähig werden, ohne den Euro zu verlassen.

Sorgen bereitet eine der Hauptstützen des Standortes Deutschland, der VW-Konzern. Hat die Affäre um Manipulationen die Dimension, um zu einem volkswirtschaftlichem Problem, einem Schaden für den gesamten Standort, zu werden?

Ja. Insbesondere für die Autoindustrie ist der Schaden gewaltig. Die ausländische Konkurrenz nutzt die Gelegenheit, endlich Dieselautos aus Deutschland vom Markt zu drängen. Das steht hinter den Umweltstandards für den Ausstoß von Stickoxiden in den USA. Die im Vergleich zu Europa extrem hohen Standards für Pkw-Diesel haben den Auftrag, deutsche Autos vom US-Markt weg zu halten. Anders kann ich mir nicht erklären, dass die Amerikaner bei Lastwagen und Pick-ups großzügig sind, was den Stickoxid-Ausstoß betrifft. Die großen Dieselmotoren können sie nämlich auch selbst herstellen.

Aber hohe Standards können doch keine Entschuldigung für Manipulationen sein.

Natürlich nicht. Aber es ist kein Einzelfall. Die ganze Finanzindustrie ist voll vom VW-Phänomen. Überall wird versucht, die Regulierung zu unterlaufen, indem die Geschäftsmodelle für den Testbetrieb optimiert werden, während sie im Normalbetrieb die Standards nicht einhalten.

Soll das heißen, die Politik darf und soll nicht mehr regulieren?

Nein. Sie sollte besser regulieren. Ich trete schon immer für eine harte Finanzregulierung ein. Schon 2003 habe ich in einem Buch schärfere Eigenkapital-Vorschriften für Banken gefordert. Das hat eine Zeitschriften-Kontroverse mit liberalen Ökonomen ausgelöst, die meinten, dass das nicht nötig sei.

In einigen Monaten endet Ihre Amtszeit als Präsident des Ifo-Instituts. Was würden Sie als Ihren größten Erfolg bezeichnen?

Die Agenda 2010 sehe ich als einen Erfolg von vielen Vätern, zu denen ich mich zähle. Wir haben schon im Mai 2002 im Ifo die aktivierende Sozialhilfe entwickelt. Über den Sachverständigenrat ging das in die Agenda ein. Dort findet sich mit Mini-Jobs und Lohnzuschuss-Elementen in Hartz IV vieles von dem wieder, was wir entwickelt haben. Und es ist gelungen, das Ifo wieder an die Spitze der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute zu führen.

Und Ihr größter Misserfolg?

Jeder Ökonom leidet darunter, dass die Politik seine schönen Empfehlungen gerne ignoriert. Das erlebe ich immer wieder.