Wer macht Sinn?

von Martin Greive, Welt am Sonntag, 10.01.2016, S. 38

Der bisherige Ifo-Chef, Deutschlands bekanntester Ökonom, geht in Rente. Zwei junge, sehr unterschiedliche Volkswirte kämpfen um den Posten des obersten Wirtschaftserklärers.

Clemens Fuest dürfte hoffen, dass es bald vorbei ist. Dass die fulminante Abschiedstournee des großen Zampanos Hans-Werner Sinn endlich vorübergeht. Deutschlands bekanntester Ökonom geht im März als Präsident des Münchener Ifo-Instituts in Rente und ist jetzt, auf der Ziellinie, noch präsenter als sonst. Auf Sinns Schreibtisch stapeln sich so viele Anfragen, dass er selbst großen TV-Talkshows absagen muss. Wer ihn kennt, weiß, wie schwer ihm das fällt. 

Für Fuest, seinen Nachfolger als Ifo-Chef, werden die Fußstapfen damit immer größer. Denn egal, ob man Sinn und seine zugespitzten und umstrittenen Thesen mochte oder nicht: Er war die klare Nummer eins unter Deutschlands Volkswirten. Kein deutscher Ökonom sorgte mit seinen Thesen für mehr Aufmerksamkeit, kein Finanzexperte war bekannter, kein anderer konnte die Finanzmärkte mehr in Wallung bringen als der Ifo-Chef. 

Umso mehr stellt sich jetzt die Frage: Wer kann sein Erbe antreten? Welcher Ökonom wird den wirtschaftspolitischen Diskurs in den nächsten Jahren in Deutschland prägen? Derzeit läuft alles auf einen Zweikampf hinaus: Ein Anwärter ist der 47-Jährige Fuest. Der andere ist Marcel Fratzscher, 44, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Es ist ein Duell zweier Ökonomen einer neuen Generation. Und es wird immer mehr auch zu einem Kampf links gegen rechts. 

Ein Top-Ökonom, der Sinns Lücke ausfüllen will, muss ein Multitalent sein. Er muss ein guter Forscher sein und das mathematische Rüstzeug mitbringen. Ohne diese Fähigkeiten wird heute niemand mehr Präsident eines großen Wirtschaftsforschungsinstituts. Gleichzeitig muss er komplexe ökonomische Sachverhalte auf den Punkt bringen können. Sinn hatte eine Formulierungsgabe wie kein Zweiter. Viele Ökonomen besitzen diese sprachlichen Fähigkeiten nicht. Viele drängt es aber auch gar nicht in die Öffentlichkeit, weil darunter zwangsläufig ihre Forschung leidet. Deshalb ist das Feld an Ökonomen, die Sinns Erbe antreten können und wollen, überschaubar. Und aus dieser kleinen Gruppe stechen Fuest und Fratzscher heraus. 

Beide sind gute Forscher, beide sind gute Redner. Und beide haben von Sinn profitiert. Fuest wurde von ihm gefördert, Fratzscher profilierte sich gegen ihn. „Fratzschers Strategie, bekannt zu werden, war, einfach immer das Gegenteil von Hans-Werner Sinn zu sagen“, sagt ein Spitzenökonom eines Wirtschaftsforschungsinstituts. Nie zuvor war ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler in so kurzer Zeit so erfolgreich wie Fratzscher. Bis Anfang 2013 arbeitete er bei der Europäischen Zentralbank (EZB), leitete dort die Abteilung für internationale wirtschaftspolitische Analysen. Zwar wurde schon damals in Frankfurt erzählt, es gebe da einen talentierten deutschen Ökonomen bei der EZB. Aber Fratzscher kannten nur Insider. Das änderte sich schlagartig, als er Anfang 2013 DIW-Präsident wurde. Seine Strategie war, möglichst schnell möglichst bekannt zu werden. Er professionalisierte die Medienarbeit am DIW. Gefühlt ist seit seinem Amtsantritt kein Tag vergangen, an dem Fratzscher kein Interview gibt, an dem er keinen Gastbeitrag schreibt. Eine EZB-Ratssitzung kommentierte er live. 

Diese Strategie geht aber nur auf, weil Fratzscher ein untrügliches Gespür für Themen hat. Er ist kein typisch linker Ökonom, der glaubt, mit Konjunkturprogrammen und höheren Löhnen werde die Wirtschaft schon gerettet. Die jüngsten Rentenreformen findet er genauso falsch wie alle anderen Kollegen auch. Fratzscher hat allerdings früh erkannt, dass die deutschen Volkswirte in der Euro-Krise nahezu geschlossen Fundamentalkritik am Rettungskurs übten und kaum einer konstruktive Vorschläge machte. In diese Nische sprang der DIW-Chef. 

Der frühere Notenbanker verteidigte die umstrittene Geldpolitik seines alten Arbeitgebers EZB. Während die ordnungspolitisch geprägten Ökonomen noch immer schockiert über den zurückliegenden Tabubruch der Staatsanleihenaufkäufe sprachen, forderte Fratzscher schon das nächste Aufkaufprogramm – und kurze Zeit später kam es so. Auch in der Griechenland-Krise warnte Fratzscher vor den Gefahren eines „Grexits“ und präsentierte Vorschläge, wie die Schuldenlast des Landes gesenkt werden kann. 

Als er dann auch noch den deutschen Investitionsstau zu einem großen Thema machte, entdeckte ihn die SPD. 2014 schrieb Fratzscher das Buch „Die Deutschland-Illusion“, SPD-Chef und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel stellte es vor. Im gleichen Jahr ernannte Gabriel den Ökonomen zum Chef einer hochrangig besetzten Kommission, die Vorschläge vorlegen sollte, wie die Investitionskraft Deutschlands gestärkt werden könne. Nur eineinhalb Jahre nach Amtsantritt am DIW war Fratzscher zu einem der wichtigsten Berater des Vizekanzlers aufgestiegen. 

In der aktuellen Flüchtlingskrise setzt Fratzscher seinen Außenseiter-Kurs fort. Während fast alle deutschen Ökonomen vor zweistelligen Milliardenkosten im Jahr warnen, erklärte Fratzscher, nach etwa sieben Jahren rechne sich ein Flüchtling für den Staat. Daraufhin brach allerdings ein Sturm über ihn los. Es gab harsche Kritik an seinen Berechnungen. Der Ökonom Ulrich van Suntum wirft Fratzscher vor, er „könne nicht mal Excel“. 

Hinter vorgehaltener Hand mokieren sich schon lange viele Kollegen über den DIW-Präsidenten. Seine Berechnungen seien häufig krude, etwa die zum angeblichen Investitionsstau. Dass ein ohne Zweifel guter Wissenschaftler eine solch banale Berechnung vorlege, nur um sich in der Öffentlichkeit zu profilieren, sei nicht nachvollziehbar. Ein Kollege weist genüsslich darauf hin, dass „man das 2014er-Gutachten der Wirtschaftsweisen auch als einen einzigen Angriff auf Fratzscher lesen kann“. 

Ein anderer Ökonom spottet, wenn aus seinem Institut eine Zahl komme, hätte Fratzschers DIW „keine drei Stunden später immer die entsprechende Studie dazu fertig“. Fratzscher dagegen sagt, „es sollte uns Wissenschaftlern darum gehen, Antworten auf die zentralen wirtschafts- und gesellschaftspolitische Themen anzubieten“. 

Clemens Fuest blieb vergleichbar bissige Kritik lange erspart. Er ist seit vielen Jahren einer der gefragtesten Wirtschaftsberater der Regierung, schon 2007 wurde er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium. Während Fratzscher enge Kontakte ins SPD-geführte Wirtschaftsministerium pflegt, hat Fuest einen guten Draht zu Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). 

Der gebürtige Münsteraner ist anders als Fratzscher niemand, den es ins Scheinwerferlicht zieht. Er wird da eher reingezogen. Fuest ist völlig unprätentiös, trotz seiner eindrucksvollen Karriere: Mit 33 Jahren Wirtschaftsprofessor an der VWL-Hochburg Köln, mit 40 Professor an der Elite-Uni Oxford. Sinn sagt, als er 1999 beim Ifo als Präsident angefangen habe, sei er in der Öffentlichkeit nicht so bekannt gewesen wie sein Nachfolger heute. 

Fuest steht für ordoliberale Positionen. Er ist Mitglied in liberalen Denkfabriken. Trotzdem gilt er als unideologischer Kopf, als jemand, der nicht blindlings den schlanken Staat propagiert. Steuersenkungen hält er nicht immer für richtig, und in Debatten über den angeblich aufgeblähten deutschen Beamtenapparat verweist er gern auf Statistiken, die das Gegenteil belegen. 

In der Euro-Krise versuchte Fuest – als Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung – Sinn sogar die Deutungshoheit über die Euro-Krise abzuringen und warnte eindringlich vor einem „Grexit“. Von einem Duell „Fuest gegen Sinn“ war schon die Rede. Die Rolle des Sinnschen Gegenspielers übernahm dann aber eher Fratzscher. Fuest, so schien es, war für die Rolle des Lautsprechers nicht marktschreierisch genug. 

Doch seitdem klar ist, dass Fuest neuer Ifo-Chef wird, hat er unverkennbar viele Positionen Sinns übernommen. So fordert er jetzt auch einen Euro-Austritt Athens. Im Sommer sorgte Fuest für Entrüstung, als er einen Soli für die Kosten der Griechenland-Krise forderte. „Einige seiner Äußerungen haben uns zuletzt sehr irritiert“, sagt ein Spitzenökonom. „Er probiert anscheinend schon mal die Schuhe von Sinn an“, sagt ein anderer. Fuest sagt dazu nur: „Den Status als ,Deutschlands bekanntester Ökonom‘ erbt man nicht, den muss man sich verdienen.“ Und ansonsten sei er bei seiner Meinung geblieben: Hilfen für Athen nur gegen Kooperation. 

Den Rivalen um den Ökonomen-Thron scheint bewusst zu sein, dass sie um Sinns Erbe kämpfen. Sie bringen sich in Stellung. Während Clemens Fuest den Sinn-Kurs einschlägt, driftet Marcel Fratzscher nach links. Im März wird er das Buch „Verteilungskampf“ veröffentlichen. „Ich sehe die hohe Ungleichheit in Deutschland, und den daraus resultierenden Verteilungskampf, als die zentralste Herausforderung unserer Zeit. Das zeigen die Kontroversen um Renten, Mindestlohn, Flüchtlinge und Europa nur zu deutlich“, sagt Fratzscher. Fuest sieht das anders: „Einkommensungleichheit ist in Deutschland nicht das zentrale Problem. Und dass die weltweite Einkommensungleichheit in den letzten Jahrzehnten drastisch abgenommen hat, ist ein Faktum.“

Da bahnt sich ganz offensichtlich die erste direkte Auseinandersetzung der beiden Kronprinzen an.

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