Wie sich Hungerkrisen entwickeln

Hans-Werner Sinn

Project Syndicate, 31. Mai 2022.

Der Krieg in der Ukraine lässt die Nahrungsmittelpreise weltweit explodieren. Die Ukraine lieferte vor dem Krieg 10% der weltweiten Weizenexporte, 15% des Exports an Gerste, mehr als 50% des Exports an Sonnenblumenöl, 20% des Exports an Rapsöl und 11% des Exports an Mais.  Diese Lieferungen sind nun durch den Krieg massiv gefährdet, denn einerseits hat Russland die ukrainischen Seehäfen blockiert, andererseits bombardiert es direkt die Getreidelager in dem Land.

Der Preisindex für die auf den Weltmärkten gehandelten Nahrungsmittel lag bereits im April um 30% über dem Wert des Vorjahresmonats und 62% über dem Wert des Jahres 2020. Mehr Preissteigerungen drohen, wenn erst der Effekt der im Herbst ausfallenden Ernten hinzu kommt. Diese Preissteigerungen treffen alle Konsumenten der Welt, doch gerade die Ärmsten, die den Löwenanteil ihres Einkommens für den Erwerb von Nahrungsmitteln aufwenden müssen, haben keine Möglichkeiten dem Preiswettbewerb mit anderen Ländern standzuhalten. Bittere Armut, Hungersnöte und soziale Proteste werden die Folge sein. Eine Vorahnung von dem, was der Welt droht, liefert die Tortilla-Krise des Jahres 2007. Tortillas sind Fladenbrote, die aus Mais hergestellt werden und die Nationalspeise der Mexikaner sind. Mit der staatlich subventionierten Ausweitung der Bioethanolproduktion in den USA und anderen Ländern hatte sich das Angebot an Mais für Speise- und Futtermittel auf den Weltmärkten in den Vorjahren sukzessive verringert. Die Folge war, dass die Mais-Preise vom Winter 2005/2006 auf den darauffolgenden Winter auf das Doppelte stieg, und die Tortillas um 35% teurer wurden. Im Januar 2007 kam es daraufhin zu ersten Hungerprotesten in Mexiko-City, weil sich die normale Bevölkerung die Tortillas nicht mehr leisten konnte.

Als Folge der Explosion der Maispreise widmeten die Bauern im Folgejahr Flächen, die vorher für die Weizenproduktion verwendet worden waren, in die Maisproduktion um. Das ließ im Jahr 2008 auch die Weizenpreise sehr stark anstiegen, und als dann die Verbraucher auf die steigenden Weizenpreise mit einer Substitution des Weizens durch Reis reagierten, stiegen auch die Reispreise an. Vom Jahr 2006 bis zum Jahr 2008 verdreifachten sich die Preise dieser drei Grundnahrungsmittel. Auf die Krise reagierte  eine Reihe von Ländern wie Argentinien, Indien, Kasachstan, Pakistan, die Ukraine, Russland und Vietnam seinerzeit, indem sie Ausfuhrsperren für Getreide erließen, um die heimische Bevölkerung vor den Preisanstiegen zu schützen. Das vergrößerte freilich die weltweite Verknappung und ließ die Preise nur noch schneller steigen. Auch jetzt hat schon Indien wiederum Ausfuhrstopps verhängt, und andere Länder werden folgen.

Die Hungerproteste, die 2007 in Mexiko angefangen hatten, weiteten sich im nachfolgenden Jahr auf viele andere Entwicklungs- und Schwellenländer aus. In nicht weniger als 37 Ländern kam es zu Hungerprotesten, die häufig auch in Gewalt ausarteten. Auch die Jasmin-Revolution der arabischen Länder, die mit der Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers in Tunesien im Jahr 2010 begann und sich dann nach der Ansteckung von Algerien und Ägypten zu einem Flächenbrand in der arabischen Welt ausweitete, kann als Spätfolge der Tortilla-Krise angesehen werden, denn die Nahrungsmittelpreise gingen im Jahr 2009 nur temporär zurück und stiegen danach zum Teil auf noch höhere Werte als zuvor. Die Mechanismen, die zur Tortilla-Krise führten, sind nach wie vor intakt, denn noch immer werden Flächen, die einst für die Nahrungsmittelproduktion verwendet wurden, für die Herstellung von Biokraftstoffen eingesetzt. Bei der Entscheidung, ob man die Nahrungsmittel auf den Teller oder in den Tank liefern solle, obsiegte allzu häufig der Tank. Es wird geschätzt, dass weltweit 4 Prozent der Getreideproduktion und in den USA 40% der Maisproduktion für die Herstellung von Biotreibstoffen verwendet wird. Unter dem Einfluss wachsender Rohölpreise wird dieser Anteil weiter wachsen, denn Rohöl und Bioenergie stehen in einer unmittelbaren, einseitigen Substitutionsbeziehung, seitdem jene Phase der Geschichte der Menschheit zu einem Ende kam, während derer die fossile Energie noch die billigere Alternative war.

Und wenn  jetzt  die kriegsbedingten Preissteigerungen hinzutreten, weil auch noch die erheblichen Lieferausfälle der Ukraine hinzutreten, dann akkumulieren sich zwei Arten von preistreibenden Effekten. Im Herbst und Winter, wenn sich die Effekte der ausbleibenden Ernten auf den Weltmärkten zeigen werden, wird die Weltgemeinschaft in in neue kritische Phase eintreten, bei der es wiederum zu Hungerprotesten und einem zusätzlichen Risiko für den Weltfrieden kommt. Die Zahl der Toten aufgrund der humanitären Katastrophe, die droht, könnte alles in den Schatten stellen, was bislang in der Ukraine beobachtet wurde. Dies ist ein weiterer Grund dafür, dass man beide beteiligten Parteien auffordern sollte, nun einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu vereinbaren. Es steht für beide und für die Menschheit zu viel auf dem Spiel, als weiterhin auf Sieg zu setzen.

Nachzulesen auf www.project-syndicate.org.