Deutschland und die Euro-Krise

Positive Wirtschaftsperspektiven nicht durch falsche Rettungspakete gefährden
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftsbeirat Bayern, 01.12.2010, Nr. 12/2010, S. 1-3

Das Finanzsystem der USA ist in die Knie gegangen, weil es zum Kasino verkommen war. Von Amerika aus hat die Finanzkrise die ganze Welt infiziert. Nun steckt Europa in der Krise. Ein Land nach dem anderen muss unter den Rettungsschirm der Euro-Länder genommen werden. Man ahnt Schlimmes.

Die Krise ist in Amerika noch längst nicht überwunden. Der Verkauf neuer Einfamilienhäuser liegt heute um 80 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Dabei hatten sich die Zahlen nach dem ersten Absturz ab Februar 2009 schon wieder stabilisiert. Die aktuellen Meldungen vom Baumarkt in Amerika sind leider noch verheerender als zu Beginn der Krise. Amerika erlebt im Bausektor einen echten „Double Dip“. Im Moment bleibt den Amerikanern nichts als die Hoffnung, dass es ihnen irgendwann wieder besser geht. Der amerikanische Traum von Franklin Roosevelt, dass sich jeder Amerikaner ein eigenes Haus würde leisten können, ist jedenfalls vorerst ausgeträumt.

Diese Krise entwickelte sich ungemein schnell und dramatischer, als alles, was diese Generation bisher erlebt hatte. Es war die schlimmste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit; die erste Rezession der Weltwirtschaft seit 1950. Aber so schnell, wie die Krise kam, ging sie in vielen Regionen auch wieder vorbei. Insbesondere die Schwellenländer, Brasilien, Russland, Indien und China wachsen wieder mit atemberaubendem Tempo. China machte den Anfang, zuletzt kamen Russland und fast der ganze Rest der Welt hinterher.

Schwierigkeiten haben vor allem jene Länder, die sich sehr stark verschuldet haben. Das Kapital floss in der Vergangenheit in die Länder mit Leistungsbilanzdefiziten. Ein Leistungsbilanzdefizit heißt, man importiert mehr als man exportiert. Diesen Überschuss der Importe muss ein Land mit geliehenem Geld bezahlen. Ein Kapitalimport ist dasselbe wie ein Leistungsbilanzdefizit. Es handelt sich nur um zwei Wörter mit unterschiedlichem semantischem Anklang, die aber denselben ökonomischen Sachverhalt darstellen. Letztlich leiht man sich kein Geld, sondern Güter, um mehr davon zu verbrauchen, als man liefert.

Die Schuldenstaaten haben sich das Geld zur Finanzierung des Nettogüterstroms in ihr Land in der ganzen Welt besorgt - nicht zuletzt hier in Deutschland. Deutschland war zwischen 1995 und 2008 der größte Kapitalexporteur diesseits und jenseits des Atlantiks. Lediglich Japan und China hatten noch größere Kapitalexporte. Wir haben den amerikanischen Traum maßgeblich mitfinanziert – und auch den Traum der Griechen, der Spanier, der Portugiesen, der Iren, der Engländer und all der anderen Länder, die jetzt in der Schuldenkrise stecken. Diese Länder hatten lange Zeit ein Regime der „lockeren Budgetbeschränkungen“, um einen Begriff zu verwenden, den der ungarische Ökonom János Kornai für den untergehenden Kommunismus verwendet hatte. Es sind genau diese Staaten, die jetzt in der Krise verharren, obwohl die Weltwirtschaft wieder anzieht.

Die Welt teilt sich in zwei Gruppen von Ländern: Einerseits die Schwellenländer, Deutschland, Schweden, die Schweiz und einige osteuropäische Länder, in denen die Wirtschaft wieder brummt. Andererseits die Länder, die sehr viele Schulden aufgenommen haben. Sie müssen den Gürtel jetzt enger schnallen, weil die Kredite nicht mehr so fließen wie früher. Dass so viele private und öffentliche Schulden aufgenommen wurden, lag am Euro. Mit der Einführung des Euro verschwanden die Zinsunterschiede zwischen den Staaten der Währungsunion. Der Euro hat einen gemeinsamen Kapitalmarkt geschaffen. Erstmals bekamen die Spanier zum Beispiel die Möglichkeit, sich langfristige Baukredite zu einem Festzins für 20 Jahre zu besorgen. Das war dort vorher gar nicht möglich. Noch dazu sanken die Zinsen auf das niedrige deutsche Niveau. Kein Wunder, dass die Spanier von diesem Angebot gerne Gebrauch machten. Sie haben Kredite aufgenommen und gebaut wie die Weltmeister. Dadurch kam die Bauindustrie in Schwung, viele Menschen fanden Beschäftigung, und die Immobilienpreise stiegen. Die Eigentümer der Immobilien wurden immer reicher und trauten sich an neue Unternehmungen heran. Das wiederum führte zu einem dramatischen Wirtschaftswachstum, aber letztlich auch zu einer Überhitzung, zu einer Blase, die, wie wir wissen, inzwischen geplatzt ist.

Das Wirtschaftswachstum der Kapitalimportländer war wirklich dramatisch. Während Deutschland seit Mitte der 90er Jahre, als der Euro verabredet wurde, bis jetzt um etwa 16 Prozent gewachsen ist, sind die Iren mit ihrer Wirtschaft um 105 Prozent gewachsen, die Spanier um 50 Prozent, die Griechen um 56 Prozent. Das Geld kam großenteils aus Deutschland. Die Kurve der deutschen Kapitalexporte verlief in den letzten Jahren spiegelbildlich zu den Kapitalimporten der GIPS-Länder, also Griechenlands, Irlands, Portugals und Spaniens, sogar was die Größenordnung betrifft. Und da die Salden der Kapitalverkehrsbilanz dasselbe wie die Leistungsbilanzsalden sind, entwickelten sich auch letztere fast exakt spiegelbildlich. „It takes two to tango“, sagte Christine Lagarde, die französische Finanzministerin dazu. Tatsächlich haben die Länder Europas den Euro-Tango getanzt.

Doch die Zeit, in der man das in den GIPSLändern erotisch fand, ist nun vorbei, denn das billige Geld ist nicht mehr verfügbar. Seit der Immobilienkrise in den USA und der europäischen Schuldenkrise haben die Banken schlicht Angst, ihr Geld weiterhin in die weite Welt zu verteilen. Sie kaufen kaum noch griechische Staatspapiere oder verbriefte Wertpapiere amerikanischer Provenienz, wie sie zum Beispiel von Lehman Brothers ausgegeben wurden. In Amerika ist der gesamte immobilienbezogene Verbriefungsmarkt in sich zusammen gebrochen. Im Jahr 2006 hatte der Markt für diese strukturierten, immobiliengesicherten Wertpapiere ein Emissionsvolumen von 1900 Milliarden Dollar. Heute gibt es den Markt nicht mehr, er ist nahezu vollständig kollabiert: Ein Einbruch um 97 Prozent. Heute laufen 95 Prozent der Immobilienkredite in den USA über drei staatliche Institutionen: Fannie Mae, Freddie Mac und Ginnie Mae. Einen Staat, in dem 95 Prozent der Immobilienfinanzierung über den Staat bereitgestellt wird, nannte man früher sozialistisch. „Volksrepublik Amerika“ könnte man mit einiger Berechtigung sagen.

Neue Anlagepolitik der Banken

Weil das Geld nun hier bleibt, haben wir heute Bauzinsen, die so niedrig sind wie noch nie. Die Deutsche Bank beglückte ihre Kunden temporär sogar mit einem Zinssatz von weniger als 3 Prozent für langjährige Baukredite. Andere Banken sind sogar noch billiger. Man bekniet den Häuslebauer geradezu. „Bitte, bitte, bewahr das Geld für mich auf. Ich will auch gar keinen Zins. Hauptsache, ich kriege es nach zehn Jahren wieder,“ so könnte man die Hilferufe aus den Bankfilialen karikieren.

Die Unternehmen hatten noch vor einem Jahr über die Kreditklemme geklagt. Wir fragen jeden Monat 4.000 Unternehmen, wie sie die Kreditvergabe der Banken erleben. Vor einem Jahr antworteten die Unternehmen mehrheitlich, dass die Kreditvergabe restriktiv sei. Dieser Wert ist seither stetig gesunken. Die Kreditvergabe wird heute als großzügig beurteilt. Die Kreditklemme hat sich in Luft aufgelöst. Das ist insofern verwunderlich, als die Banken durch die Abschreibungen zu einem gewaltigen Deleveraging gezwungen wurden. Die Deutsche Bank hatte im ersten Quartal 2008, also kurz vor dem Höhepunkt der Krise, ein Bilanzvolumen von 2,3 Billionen Euro. Heute sind es weniger als 2 Billionen. Ende 2009 waren es gar nur 1,5 Billionen. Das heißt, die Bank hat das Kredit- und Kreditersatzgeschäft dramatisch reduziert. Das musste sie auch, weil sie durch die Abschreibungen viel Eigenkapital verloren hatte. Alle Banken haben viel Eigenkapital verloren, und fast alle sind mit ihrem direkten und indirekten Kreditvolumen herunter gegangen. Trotzdem gibt es keine Kreditklemme in Deutschland. Das klingt wie ein Wunder. Doch es gibt eine einfache Erklärung: Die Banken versuchen, die Spareinlagen, die sie einsammeln, wieder im eigenen Land anzulegen. Sie trauen sich einfach nicht mehr, das Geld wie früher ins Ausland zu schieben. Sollen sie etwa griechische Staatsanleihen kaufen oder strukturierte Wertpapiere aus Amerika?

Diese neue Politik der Banken hat entscheidend dazu beigetragen, dass wir heute in Deutschland einen doppelten Boom haben. Wir haben auf der einen Seite einen Export-Boom, weil die Chinesen die Ausrüstungsgüter, die sie brauchen, um ihre Wirtschaft weiterzuentwickeln, bei uns kaufen. Auf der anderen Seite haben wir aber auch einen kreditgetriebenen binnenwirtschaftlichen Boom, weil die Banken die Spargelder wieder zuhause anlegen. Der gewerbliche Bau der Unternehmen schoss im Sommer in die Höhe wie eine Rakete. Auch der Geschosswohnungsbau zieht dramatisch an. Nur der Tiefbau schwächelt ein wenig, weil die staatlichen Konjunkturprogramme auslaufen. Aber der Auftragsbestand der freischaffenden Architekten in Deutschland ist heute so hoch wie seit 15 Jahren nicht mehr. Wir stehen am Beginn eines Baubooms und damit einer Binnenkonjunktur, die die außenwirtschaftliche Konjunktur wohltuend ergänzt. Das ist der Grund dafür, warum Deutschland in diesem Jahr nach aktuellen Schätzungen 3,5 Prozent Wirtschaftswachstum erreichen wird – den höchsten Wert aller Länder der Euro-Zone mit Ausnahme des Newcomers Slowakei. Nur 1,2 Prozentpunkte von diesen 3.5 Prozent werden durch den Außenhandel erklärt. Der Löwenanteil ist Binnennachfrage, und zwar nicht Konsumnachfrage - die trägt derzeit noch so gut wie nichts bei -, sondern die Nachfrage nach Investitionsgütern.

Konjunkturlokomotive Deutschland

Im letzten Boom von 2006 bis 2008 haben einige gejubelt, wir hätten ein Wirtschaftswunder in Deutschland. Die FTD hatte sogar eine Internetseite mit der Adresse „Das Wirtschaftswunder“ gestartet. Aber zu der Zeit war der Jubel gar nicht angebracht. Das höchste Wachstum, das wir in diesen drei Jahren erreicht haben, entsprach gerade mal dem Durchschnitt der westeuropäischen Länder. Heute gibt es viel mehr Anlass, von einem Wirtschaftswunder zu sprechen. Wir sind nun die Konjunkturlokomotive Europas. Selbstverständlich folgt auf jede Krise auch wieder eine Erholung. Der Konjunktureinbruch in dieser Krise war der stärkste in der Nachkriegszeit. Insofern ist es nicht allzu überraschend, dass jetzt auch der Anstieg am steilsten ist. Aber wir sind in Europa ziemlich allein mit diesem Anstieg. Es gibt sogar Länder, die in diesem Jahr noch schrumpfen, während in Deutschland die Post abgeht. Man könnte sagen, Deutschland sei der Krisengewinner. Aber das klingt negativer, als es ist, denn derzeit wird nur eine für uns äußerst nachteilige Entwicklung auf den Kapitalmärkten korrigiert, die die letzten zehn, fünfzehn Jahre gekennzeichnet hat.

Es war nämlich nicht gesund, dass in den letzten Jahren so viel Kapital aus Deutschland in die Länder der südwestlichen Peripherie und nach Amerika abgeflossen war. Das Kapital hätte auch hier investiert werden können. Deutschland hatte von 1995 an über 14 Jahre im Schnitt die niedrigste gesamtwirtschaftliche Nettoinvestitionsquote aller OECD Länder. Wir haben im letzten Jahrzehnt von unseren Ersparnissen nur ein Drittel zu Hause investiert. Im Zeitraum von 2002 bis 2009 haben wir eine Gesamtersparnis von 1.411 Milliarden Euro gehabt. So viel Geld hätten wir in Fabriken, Häuser, Straßen oder Schulen investieren können. Es wurden aber nur 470 Milliarden in Deutschland investiert. 941 Milliarden Euro oder 67 Prozent flossen ins Ausland: in den Kauf strukturierter Wertpapiere amerikanischer Provenienz, in Staatspapiere der südeuropäischen Länder und Vieles mehr. Dorthin haben die Landesbanken und die privaten Großbanken die Ersparnisse der Deutschen getragen, anstatt sie dem Mittelstand zur Verfügung zu stellen, damit dieser hier im Land investiert und Arbeitsplätze schafft.

Die meisten Kapitalexporte sind Finanzkapitalexporte. Direktinvestitionen erklären von den 941 Milliarden Euro nur 190 Milliarden, etwa ein Fünftel. Finanzkapitalexporte sind unspektakulär. Die Zeitungen berichten darüber nicht, und deshalb übersieht sie der Bürger. Sie sind aber entscheidend dafür, welche Wirtschaft boomt und welche lahmt.

Deutschland lahmte wegen der Kapitalexporte gewaltig. Unter dem Euro hatten wir neben Italien die niedrigste Wachstumsrate aller EULänder. Das schlappe Wachstum hat den Lohnerhöhungsspielraum eingeschränkt. Die Löhne stiegen langsamer als anderswo und mit ihnen auch die Importe. Zugleich wurden die Unternehmen im Vergleich zum EU-Ausland billiger, was die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie steigerte. Ein Glück, dass die Exporte schnell anzogen, sonst hätte der gesamte Kapitalexport über eine Schrumpfung der Importe bewerkstelligt werden müssen, was eine noch schlimmere Flaute verursacht hätte. Diese ungute Entwicklung ist nun erst einmal gestoppt. Die Umlenkung der Kapitalströme wird, wenn wir sie nicht durch eine Verlängerung der Rettungspakete in der EU wieder kaputt machen, Deutschland mittelfristig eine sehr gute Wirtschaftsentwicklung bescheren. Sie kennzeichnet eine Trendumkehr. Ich will nicht sagen, dass wir ab sofort einen anhaltenden Boom erleben und keine Flaute mehr haben. Es geht nicht um das konjunkturelle Auf und Ab, sondern um den langfristigen Trend. Der Trend wird von jetzt ab besser sein, wenn wir ihn nicht selbst wieder durch eine falsche Politik kaputt machen.

Problematische Rettungspakete

Mit Sorge erfüllt mich die Verlängerung der Rettungspakete vom 8. und 9. Mai, die die EU-Staaten am 27. und 28. November beschlossen haben. Wir kriegen nun zwar eine Insolvenzordnung, aber vorher wird munter gerettet, und zwar ohne die Beteiligung der Gläubiger. Nur ein neuer Name für die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) in Luxemburg wurde vereinbart. Man spricht jetzt vom ESM, dem European Stability Mechanism. Die Bedingungen, unter denen Geld ausgezahlt wird, sollen aber dieselben sein.

Der einzige kleine Lichtblick ist, dass die Mittel der ESM, der den EFSF 2013 ablöst, vorrangig zu bedienen sein sollen, wenn es zur Insolvenz kommt. Außerdem ist es sicher gut, dass Staatspapiere in Zukunft mit Collective Action Clauses (CAC) ausgestattet werden sollen. Solche Klauseln erlauben Mehrheitsentscheidungen über Schuldenmoratorien, und insbesondere geben sie bei geeigneter Formulierung die Möglichkeit, die fällig werdende Schuld scheibchenweise abzuarbeiten, wenn die Mittel des ESM erschöpft sind. Ich bin aber skeptisch.

Die Beteiligung der Banken hat man, auch weil die Anleihen mit den neuen Klauseln erst ab 2013 ausgegeben werden, in die ganz weite Zukunft geschoben, so weit, dass man sie kaum noch sehen kann. Das Jahrzehnt wird vergangen sein, bis der größere Teil der Altpapiere in die neuen CAC-Papiere umgetauscht ist. Vorher müssen wir bedrängte Länder retten, wenn es nach dem Willen der anderen EU-Länder geht, sogar mit noch größeren Beträgen als jetzt schon. Derzeit liegt die Rettungssumme über alle Pakete einschließlich der Käufe von Staatspapieren durch die EU bei 927 Milliarden Euro, wovon Deutschland 216 Milliarden Euro trägt. Deutschland hat einen Fehler gemacht, denn mit diesen Rettungspaketen haben wir den ausländischen Konkurrenten auf dem Kapitalmarkt die gute deutsche Bonität geschenkt. Der deutsche Kreditgeber verlangt von seinen ausländischen Kreditnehmern keine Sicherheiten, wie es normal wäre, sondern gewährt ihnen diese Sicherheiten selbst, damit sie sich weiterhin hemmungslos verschulden und die deutschen Ersparnisse der inländischen Verwendung entziehen dürfen. Das kann nicht gut enden.

Prof. Dr. Dr. H.c. Hans-Werner sinn Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung