Focus, 16. Mai 2025, Nr. 21, S. 56-60, auch veröffentlicht in Focus Money, 23. Mai 2025, Nr. 22, S. 18-22.
FOCUS: Herr Professor Sinn, Bundeskanzler Friedrich Merz ist mit Mühe ins Amt gestartet. Kommt jetzt die Wirtschaftswende?
Hans-Werner Sinn: Der Start der Regierung war sehr holprig und widersprüchlich. Eine Wirtschaftswende zu einem mediterranen Schuldenregime ist schon beschlossen. Die neue Koalition hat jetzt 100 Tage Zeit, um zu zeigen, wohin die Reise sonst noch geht.
Haben Sie die Hoffnung, dass es aufwärts geht mit Deutschland?
Ich wäre froh, wenn es nicht weiter abwärtsginge. Angesichts der miserablen Situation der deutschen Industrie, die seit sieben Jahren schrumpft, wäre das viel.
Was muss die neue Bundesregierung dafür machen?
Die Politik muss den Sozialstaat zähmen, weil er lähmend wirkt und zu viel Geld verschlingt. Das Hauptproblem dabei ist die Demografie.
Wir werden als Gesellschaft immer älter ...
… ja. Die Boomer-Jahrgänge wollen in Kürze eine Rente von Kindern, die sie nicht haben. Es ist höchste Zeit, sie zur Weiterarbeit zu ermuntern. Im Übrigen ist es auch an der Zeit, die Bürgergeldempfänger zur Arbeit zu rufen.
Das Bürgergeld ist zu reformieren?
Das Bürgergeld sollte nicht länger als Belohnung für Nichtarbeit oder Zuschuss zur Schwarzarbeit missbraucht werden können. Es sollte in ein Lohnzuschusssystem verwandelt werden, das in der Summe aus Arbeitslohn und Lohnzuschuss ein sozial akzeptables Mindesteinkommen sichert. Und für jene, die gesund sind und trotzdem keine Arbeitsstelle finden oder finden wollen, sollten kommunale Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden, die in der Höhe des bisherigen Bürgergelds entlohnt werden.
Welche Jobs meinen Sie? Rasen mähen im Stadtpark?
Es geht um einen Bürgerlohn für einfache Arbeiten bei den Gemeinden inklusive der Pflege des öffentlichen Raums. Allzu häufig machen unsere Städte einen so verwahrlosten Eindruck, dass man sich vor ausländischen Besuchern schämen muss. Die kommunalen Arbeitsplätze würden unser Land verschönern und zugleich sicherstellen, dass alle arbeitsfähigen Menschen genug zum Leben verdienen. Wer den Bürgerlohn nicht in Anspruch nehmen möchte, obwohl er gesund ist, braucht ihn offenbar nicht.
Sollte die kommunale Arbeit mit dem Mindestlohn von 15 Euro bezahlt werden?
Jedenfalls sollten die Betroffenen den offiziellen Mindestlohn erhalten, der von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ausgehandelt wird. Entscheidend ist: Jeder, der arbeitsfähig ist, muss die Gelegenheit bekommen, zu diesem Lohn tatsächlich zu arbeiten.
Das bedeutet: Es gibt ein Recht auf Faulheit, aber nicht auf Kosten der Allgemeinheit.
Das sind Ihre Worte, nicht meine. Grundsätzlich sollte der Sozialstaat das Mitmachen statt des Wegbleibens bezahlen. Besser Lohnzuschüsse und kommunale Jobs aus dem Steuersäckel als weiterhin Lohnersatz für Arbeitsfähige, die nicht arbeiten. Die Devise muss sein; Jeder, der arbeiten will, muss arbeiten können und dann genug zum Leben haben.
Das Verfassungsgericht setzt enge Grenzen für eine Kürzung.
Es stimmt: Das Bundesverfassungsgericht verlangt die Sicherung des Existenzminimums für alle deutschen Staatsbürger. Es hat aber nicht gesagt, dass der Staat im Ausgleich dafür keine Arbeit als Gegenleistung verlangen darf. Es geht nicht an, dass wir zweieinhalb Millionen arbeitsfähiger aber nicht arbeitender Menschen in Deutschland haben, obwohl die Firmen händeringend Arbeitskräfte suchen.
Deutsche Unternehmer warnen seit Jahr und Tag vor einer Deindustrialisierung: Das übliche Klagelied des Kaufmanns oder Realität?
Die Deindustrialisierung ist sehr real. Seit 2018 schon. Seit jenem Jahr schrumpft die deutsche Industrie, allen voran die Automobilindustrie. Und nun bekommt es diese Branche auch noch mit Präsident Trump zu tun.
Wie ernst nehmen Sie dessen Drohung mit Zöllen?
Sehr ernst. Schließlich hat Trump offen gesagt, dass er anderen Ländern die Jobs wegnehmen und Deutschlands Automobilfirmen amerikanisieren möchte. Sie sollen ihre Fabriken statt ihrer Autos in die USA exportieren. Diese Art amerikanischer Handelspolitik ist brandgefährlich. Trumps Ankündigungen erinnern an die Smoot-Hawley-Zollgesetze im Jahr 1931. Auch damals hatte sich Amerika durch Zölle einen Vorteil verschaffen wollen. Doch provozierte es nur scharfe Gegenzölle. In der Folge hat die Welt 20 Prozent des Wohlstands verloren, und das Welthandelsvolumen schrumpfte um 60 Prozent. Das war die reinste Katastrophe. Die politischen Folgen in Deutschland kennen Sie.
Blüht uns jetzt ein ähnliches Schicksal?
Ich hoffe nicht. Zum Glück wurden die Zölle erst mal für 90 Tage ausgesetzt. Wenn Trump sie doch letztendlich erheben sollte, wäre eine globale Abwärtsbewegung unausweichlich.
Haben Sie eine Idee, was Trump bezweckt?
Amerika lebt seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse. Es hat Konsumgüter aus dem Rest der Welt bezogen und das so entstandene Defizit in der Leistungsbilanz mit Schuldscheinen bezahlt. Die Folge davon waren rapide steigende Auslandsschulden und noch schneller steigende Zinslasten. Die Nettoschulden der Volkswirtschaft der USA gegenüber dem Ausland betragen unglaubliche 26 Billionen Dollar, und jedes Jahr kommt mehr als eine weitere Billion, also 1000 Milliarden hinzu. Die Zinsen, die die USA für Ihre Staatsschulden bezahlen müssen, entsprechen heute schon 13 bis 14 Prozent des Staatshaushalts. In Deutschland fallen nur etwa 2 Prozent an. Das ist das Hauptproblem der Amerikaner.
Führt dies womöglich zu einem Staatsbankrott der USA?
Wie gefährdet die USA sind, wissen mittlerweile alle großen Investoren am Kapitalmarkt. Im sogenannten Mar-aLago Accord der Berater des Präsidenten, den Stephen Miran, der Leiter des Council of Economic Advisors, beschrieben hat, wird erwogen, die finanzielle Situation der USA durch Umschuldungsmaßnahmen und Gebühren zulasten ihrer Gläubiger zu steigern. Die Berater haben Maßnahmen durchgespielt, die die Ratingagenturen bei privaten Schuldnern als Insolvenz einstufen würden. Aber natürlich soll die offene Insolvenz vermieden werden. Nach meiner Interpretation wird genau das mit den Zolldrohungen bezweckt.
Sie meinen, die Zölle dienen gar nicht der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Firmen, sondern der Sicherung der amerikanischen Solvenz?
Sie sollen die Bereitschaft der anderen Länder stärken, den USA mit öffentlichen Mitteln und gegebenenfalls auch Umschuldungsmaßnahmen gesichts wahrend unter die Arme zu greifen. Die Zolldrohungen werden nämlich in den jeweiligen Gläubigerländern starke Lobbygruppen auf den Plan rufen, die ihre Regierungen bedrängen, die USA zur Vermeidung der Zölle mit öffentlichen Mitteln finanziell zu unterstützen. Einem solchen Plan kann man die Raffinesse nicht absprechen.
Ist das der Grund für die Turbulenzen am Kapitalmarkt?
In der Tat, denn andernfalls hätte sich das Kapital aufgrund der erhofften Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der USA ja auf US-Anlagen stürzen müssen. Tatsächlich reagierten die großen Kapitalanleger mit Entsetzen, als sie bemerkten, wie schlecht es um die Bonität der USA bestellt ist. Die Kurse der Anleihen, die Aktienkurse und der Dollarkurs brachen unter gewaltigem Getöse ein. Es hat sich herumgesprochen, dass die USA auf dem letzten Loch pfeifen. Zwar hat die Aussetzung der Zölle für 90 Tage die Situation bei den Aktien beruhigt, doch amerikanische Staatsanleihen will kaum noch jemand haben.
Der Kapitalmarkt ist die letzte Instanz, die Trump disziplinieren kann?
So ist es. Früher war die Disziplinierung durch den Kapitalmarkt eine Horrorvorstellung auf der Linken: Die Wirtschaft dominiert die Politik. Im Fall von Trump müssten sich die Linken nun eigentlich freuen.
Kann die Börse wirklich Regierungen in die Schranken weisen oder gar stürzen?
Im Vereinigten Königreich ist das bereits mit der Ministerpräsidentin Liz Truss passiert. Truss wurde vom Kapitalmarkt zum Rücktritt gezwungen, nachdem sie Steuersenkungen ankündigte, die den Unternehmen nützten, doch die Bonität der Staatsschulden unterminierten. Sie hielt sich gerade mal 49 Tage im Amt. Trump sitzt aber fester im Sattel.
Kann Amerikas Schuldenproblem eine Weltfinanzkrise auslösen?
Die Folgen eines Staatsbankrotts wären dramatisch. Wenn amerikanische Staatsanleihen an Wert verlieren, schlägt das auf die Banken in aller Welt durch. Die Banken haben Kursverluste zu verzeichnen und müssen den Wert der Papiere in ihren Bilanzen nach unten korrigieren. Das schafft Konkursgefahren. Die USA hatte mit dem Dollar das exorbitante Privileg, sich in einer Währung zu verschulden, die es selbst drucken konnte. Es zeigt sich inzwischen, dass die USA dieses Privileg überreizt haben – mit gravierenden Konsequenzen für die gesamte Weltwirtschaft.
Wird der Dollar den Status als Reservewährung verlieren, wie etliche Experten prophezeien?
Nicht heute oder morgen. Langfristig dürfte aber die Bedeutung des Renminbi steigen. Schon heute wird er im asiatischen Raum auch wegen der innovativen Blockchain-Technologie gerne für internationale Überweisungen genutzt. China ist absehbar die größte Volkswirtschaft der Erde. Dieser Aufstieg wird sich
zwangsläufig in der Währung widerspiegeln. Auch der Euro hat noch eine Chance, beliebter zu werden.
Welche Konsequenzen hat Trump für uns? Ist jetzt die Stunde für ein engeres Zusammenrücken Europas?
Das Zolltheater und der angedrohte Rückzug der USA aus der Nato, während Putin vor der Haustür mit dem Säbel rasselt, verlangen, dass wir uns stärker zusammenschließen, um nicht unter die Räder zu geraten. Die Pax Americana - der amerikanische Schutzschild der westlichen Welt – ist in Auflösung begriffen. Uns Europäern bleibt keine Alternative, als uns selbst um unsere Sicherheit zu kümmern.
Was heißt das konkret?
Als Erstes gehört dazu eine Ertüchtigung der Bundeswehr, wofür der Bundestag die finanziellen Möglichkeiten geschafften hat. Das alleine wird aber nicht reichen. Wir brauchen ebenso eine politische Union mit einem entscheidungsfähigen Oberkommando.
Die Vision dafür gibt es längst, aber ist der Schritt realistisch?
Zweimal hat es diese Diskussion in der Tat schon gegeben, Adenauer wollte die politische Union Europas, Kohl als Kanzler auch. 1954 hatten sich Adenauer und de Gaulle auf eine westeuropäische Verteidigungsunion geeinigt, aber die französische Nationalversammlung ratifizierte den Vertrag damals nicht, weil der interne Widerstand übermächtig war. Das nächste Mal kam das Thema indirekt mit dem Amtsantritt von Helmut Kohl 1982 auf den Tisch. Er hatte die politische Union zum Primärziel seiner Amtszeit erklärt, gemäß der von ihm vertretenen Krönungstheorie: Danach sollte die von den Franzosen geforderte Währungsunion erst nach der Herstellung einer politischen Union kommen. Es erschien damals als denkbar, dass Deutschland einer Sozialisierung der D-Mark zustimmt, während Frankreich der Sozialisierung der Force de Frappe, also der Atomstreitmacht zustimmt.
Es ist anders gekommen, der Euro war da, ehe es mit der politischen Union voranging.
Ja, die Weltgeschichte hat sich mit der unerwarteten Auflösung der Sowjetunion anders entwickelt. Das spielte Frankreichs Wunsch nach einer Währungsunion in die Hände, ohne dass militärische Zugeständnisse nötig waren. Kohl hat die D-Mark geopfert, um Frankreichs Widerstand gegen die 2+4-Verträge zu brechen. Leider hatte Deutschland danach aber keine Trumpfkarte mehr, um die politische Union zu durchzusetzen. So kam es, dass wir zwar den Euro, aber keine gemeinsame Streitmacht haben. Wir müssen diesen Webfehler im europäischen Einigungsprozess schleunigst reparieren. Dazu ist es erforderlich, die EU zu einer politischen Union mit einem echten Bundesstaat weiterzuentwickeln. Staaten wurden in der Geschichte stets unter dem Druck äußerer Feinde gegründet. Jetzt ist es für Europa an der Zeit, den nächsten Integrationsschritt zu tun. Europa braucht schleunigst eine echte politische Union mit einer gemeinsamen Atomstreitmacht.
Die Einwände gegen den Brüssel-Zentralismus sind vor diesem Hintergrund vergessen? Gerade Sie haben die EU häufig für ihre Regulierungswut kritisiert.
Nein, keineswegs. Ich habe ja nicht die EU an sich kritisiert, sondern ihre falschen Prioritäten. Sie geriet in die Sackgasse, weil sie die falsche Reihenfolge der Integrationsschritte wählte und sich in einem heillosen Dirigismus verlor. Eine politische Union ist nicht zuvörderst als Währungsoder Transferunion definiert, sondern durch eine gemeinsame Regierung mit einem Machtmonopol und einer gemeinsamen Armee. Und nur dann, wenn diese Armee über Atomwaffen verfügt, kann sie ihre Feinde in der heutigen Welt wirklich abschrecken. Ohne die Schaffung eines gemeinsamen Staates, der sich durch die Atomwaffe zu schützen weiß, lässt sich Putin nicht in Schach halten.
Das Interview führte Georg Meck.
Nachzulesen auf www.focus.de.