Europa arbeitet länger (Europe is Working Longer)

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Project Syndicate, März 2005

Frankreichs Entscheidung, die 35-Wochen-Stunde abzuschaffen, indem man den Arbeitgebern gestattet, die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich zu verlängern, markiert die Umkehr eines Jahrzehnte alten Trends. In den 1980er und 1990er Jahren wurde die Arbeitszeit in den meisten europäischen Ländern verkürzt: In Deutschland von über 40 auf 38 Stunden pro Woche, in Großbritannien von 40 auf 37, in Dänemark von 39 auf 37 und in Frankreich von 40 auf 35 Stunden. Jetzt geht die Reise in die andere Richtung. Die Europäer werden länger arbeiten müssen, um mit der Globalisierung fertig zu werden.

Frankreich folgt den Veränderungen in Deutschland, wo die Tarifverhandlungen schon im letzen Jahr zu einer Arbeitszeitverlängerung geführt haben. Der Unterschied zwischen den beiden Ländern ist allerdings, dass die Arbeitszeit in Deutschland ohne Lohnausgleich verlängert wurde.

Siemens war der Vorreiter und verlängerte die Wochenarbeitszeit von 35 auf 40 Stunden. Die bayrische Regierung verlängerte die Arbeitswoche von 38,5 auf 40 Stunden für ältere Staatsdiener und auf 42 Stunden für jüngere. Als DaimlerChrysler die Arbeitszeit in seinem Forschungs- und Entwicklungszentrum von 35 auf 40 Stunden pro Woche anhob, war der Damm gebrochen, und weitere Tarifabkommen schlossen sich dem Trend an.

Deutschland reagiert auf die Niedriglohnkonkurrenz aus den ehemals kommunistischen Ländern. Gegenwärtig liegt der Durchschnittslohn in den zehn Ländern, die im Mai 2004 der EU beitraten, bei einem Siebtel des westdeutschen Lohnniveaus. Das chinesische Lohnniveau beträgt ein Fünfundzwanzigstel.

Diese Unterschiede sind so enorm, dass es manchem als sinnlos erscheinen mag, sich dem Wettbewerb überhaupt zu stellen. Aber der Wettbewerb ist kein Schachspiel, dem man, wenn man keine Lust hat, fernbleiben kann. Da die Produktivität in Deutschland viel höher als in den genannten Ländern ist, lohnt sich der Versuch allemal, und wenn er gelingt, könnte das Beispiel Schule machen. Auch Frankreich würde dann vermutlich den Weg der Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich gehen.

Noch leisten die Gewerkschaften heftigen Widerstand. Dabei berufen sie sich auf die Theorie des festen Arbeitskuchens. Sie behaupten, dass eine Verlängerung der Arbeitszeit um 10 % zu einer Senkung der Beschäftigungszahlen um 10 % führt.

Trotz einer gewissen oberflächlichen Plausibilität ist diese Ansicht falsch. Längere Arbeitszeiten bei gleichem Lohn sind ein sinnvoller Weg, die europäischen Arbeitnehmer wettbewerbsfähiger zu machen. Die Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich ist im Vergleich zu einer direkten Lohnsenkung für alle Beteiligten das geringere Übel.

Die Arbeitszeitverlängerung wird das Wirtschaftswachstum ankurbeln, denn wenn die Menschen länger arbeiten, tut es auch das Kapital. Abgesehen von Firmen, die jeden Tag bereits 24 Stunden mit Schichtbetrieb ausfüllen, bedeutet eine Verlängerung der täglichen Arbeitszeit der Menschen auch eine Verlängerung der täglichen Nutzungszeit des Kapitals. Eine Arbeitszeitverlängerung um 10 % kommt deshalb einem Anstieg des produktiven Kapitalstocks einer Volkswirtschaft um 10 % gleich. Das Vermögen erhöht sich sprunghaft, und die Produktion steigt unmittelbar.

Die Theorie des festen Arbeitskuchens geht davon aus, dass die Verlängerung der Arbeitszeit und die Erhöhung der Beschäftigung ökonomisch dasselbe sind. In Wahrheit ist der Unterschied erheblich. Längere Arbeitszeiten können praktisch sofort umgesetzt werden. Doch die Beschäftigung von mehr Arbeitskräften ist zeitraubend und teuer, weil es dazu im Normalfall neuer Investitionen bedarf. Die Arbeitszeitverlängerung ist der ideale Weg, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit rasch zu erhöhen.

Mittelfristig wird die Verlängerung der Arbeitszeit zudem zu höheren Beschäftigungszahlen führen, da sie bei gleich bleibenden Lohnkosten die Leistung eines jeden Arbeiters erhöht. Viele Arbeitskräfte, deren Leistung für eine Kostendeckung bisher als zu gering eingestuft wurde, werden jetzt eingestellt, da sie nach der Arbeitszeitverlängerung das Geld, das sie kosten, selbst erwirtschaften. Firmen werden in neue Arbeitsplätze investieren, weil sie ihren Gewinn durch die Einstellung neuer Mitarbeiter noch über jenes Niveau hinaus steigern können, das bereits aus der Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich resultiert.

Manchmal wird befürchtet, der längere Arbeitstag führe nicht zu Neueinstellungen, weil damit das Einsatzverhältnis von Kapital und Arbeit reduziert und somit die Grenzproduktivität der geleisteten Arbeitsstunden gesenkt würde. Die Senkung könne so weit führen, dass der positive Effekt der Arbeitszeitverlängerung pro Mitarbeiter überkompensiert werde.

Doch diese Furcht ist unbegründet. Wegen des „Kapitalnutzungseffekts“ erhöht sich das Verhältnis von Kapitalnutzungszeit und Arbeitseinsatz nämlich nicht, und folglich gibt es auch keine signifikanten Auswirkungen auf die Grenzproduktivität der geleisteten Arbeitsstunden. Der theoretische Effekt auf die Beschäftigung ist eindeutig positiv, weil marginale Arbeitskräfte wegen der Verlängerung der Arbeitszeit produktiver werden, ohne mehr zu kosten.

Gibt es genügend Nachfrage, um die aus der Arbeitszeitverlängerung resultierende zusätzliche Güterangebot zu nutzen? Die Verfechter der Lump-of-Labor-Theorie sagen nein. Sie übersehen aber, dass in der Marktwirtschaft einem Angebot normalerweise eine Nachfrage gegenüber steht. Schließlich ist diese Wirtschaft ja eine Tauschwirtschaft, in der nichts verschenkt wird. Konkret: Da mehr Güter bei gleichem Lohn produziert werden, steigen die Gewinne genau um den Wert der gesteigerten Produktion. Daher entsteht automatisch die Kaufkraft für den Erwerb der zusätzlich produzierten Güter. Der Unternehmer kann seiner Frau einen neuen Pelzmantel kaufen oder, was besser wäre, seinen Arbeitern eine neue Fabrik oder eine neue Maschine. Alles ist Nachfrage nach Gütern aus laufender Produktion.

Wenn alle Firmen länger arbeiten, sehen sich die meisten Firmen einer höheren Nachfrage gegenüber, ja, im Durchschnitt aller Firmen ist bis auf den letzten Cent genau so viel zusätzlicher Kaufkraft vorhanden, dass die Nachfrage genau im Ausmaß des zusätzlichen Angebots steigen kann.

Sicher, die Mehrnachfrage verteilt sich anders als das Mehrangebot. Insofern müssen sich die relativen Preise der Wirtschaft ändern, um Angebot und Nachfrage überall wieder an einander anzugleichen. Auch mag ein Teil der zusätzlichen Nachfrage ins Ausland abwandern, aber das gilt auch für das zusätzliche Angebot. Notfalls könnte eine leichte Abwertung die Exportnachfrage steigern. Dabei könnte es sich um eine explizite oder eine implizite Abwertung aufgrund einer Preissenkung handeln, die durch eine Reduktion der Stundenlohnkosten ermöglicht wird, die selbst wiederum das Ergebnis der Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich ist.

Viele sehen nicht, dass die Verlängerung der Arbeitszeit für den Wirtschaftsablauf dasselbe ist wie ein technischer Fortschritt, der die Produktivität der menschlichen Arbeit und die Produktivität des Kapitals erhöht. Es ist egal, ob die Produktion steigt, weil Mensch und Maschine länger arbeiten oder weil ein Ingenieur eine Erfindung gemacht hat, die die Produktion bei gleicher Arbeitszeit erhöht. Deswegen kann man sich nur wundern, wenn man aus ein und demselben Munde hört, dass die Verlängerung der Arbeitszeit für die Wirtschaft ein Problem sei und technischer Fortschritt gebraucht werde, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitnehmer zu erhöhen. Entweder ist das eine richtig oder das andere, aber nicht beides zugleich. Die Gesetze der Logik kann man sich nicht so zurechtbiegen, wie es einem gefällt. Der technische Fortschritt hat der Menschheit bislang statt zusätzlicher Arbeitslosigkeit stets eine Erhöhung des Konsumniveaus gebracht. Das wird bei der Verlängerung der Arbeitszeit nicht anders sein. Die Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich ist der Königsweg zu mehr Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung.

Der Autor ist Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München.

Project Syndicate, 2005. www.project-syndicate.org