Das italienische Problem

Hans-Werner Sinn ist überzeugt, dass dem hochverschuldeten Land nur eine reale Abwertung hilft.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Handelsblatt, 07.10.2014, Seite 48

Italien steckt in einer Triple-Dip-Rezession. Seit dem Ausbruch der Krise (Q4 2007) ging es erst um sieben Prozent hinunter, dann drei Prozent hinauf, dann fünf Prozent hinunter, dann wieder um 0,1 Prozent hinauf und zuletzt, während des ersten Halbjahres 2014, wieder 0,3 Prozent hinunter.

Insgesamt ist das italienische Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit dem Ausbruch der Finanzkrise um neun Prozent geschrumpft. Die Industrieproduktion fiel sogar um 24 Prozent. Nur wegen der immer noch erstaunlich hohen Inflation blieb das nominale BIP bislang nahezu konstant. Die Arbeitslosenquote der Gesamtbevölkerung ist auf zwölf Prozent gestiegen, jene der Jugendlichen, die nicht zur Schule gehen, auf 44 Prozent.

Italien hat der Schrumpfung seiner Wirtschaft bislang durch mehr Staatsverschuldung entgegenzuwirken versucht. Da kollektive Rettungsaktionen der Staatengemeinschaft und der EZB die Zinsen niedrig hielten, stiegen die Schulden des Staatssektors vom Jahreswechsel 2007 2008 bis zum Frühjahr 2014 um ein Drittel.

Der neue italienische Ministerpräsident Matteo Renzi will nun das Wachstum ankurbeln. Aber was er damit meint, ist, noch mehr Schulden zu machen. Klar, Schulden schaffen Nachfrage, doch ist diese Nachfrage künstlich - ein Strohfeuer. Echtes Wachstum lässt sich nur erreichen, wenn Italiens Wirtschaft wettbewerbsfähiger wird, und dazu gibt es im Euro nur einen Weg, der wirklich funktioniert: die Senkung der Güterpreise in Relation zu den Wettbewerbern im Euro-Raum. Das, was man zur Zeit der Lira durch eine offene Abwertung bewerkstelligte, muss nun durch eine sogenannte reale Abwertung imitiert werden.

Nach dem Beschluss zur Einführung des Euros auf dem Gipfel von Madrid 1995 fielen die Zinsen der Südländer, und es entstand eine entsprechende Kreditblase. Dies führte dazu, dass Italien bis Ende 2013 relativ zu seinen Handelspartnern im Euro-Raum 25 Prozent teurer wurde, wenn man den sogenannten BIP-Deflator zu Rate zieht. Davon wurden 17 Prozentpunkte durch die höhere Inflation und acht Punkte durch eine Lira-Aufwertung vor Einführung des Euros erklärt. Gegenüber Deutschland wurde Italien sogar um 42 Prozent teurer. Das, und nichts anderes, ist das Problem Italiens. Es gibt hier keine andere Lösung als die Korrektur der überhöhten Preise durch eine reale Abwertung.

Aber das ist leichter gesagt als getan. Preise zu erhöhen macht Spaß. Sie zu senken ist mühsam und unbequem. Selbst wenn die Gewerkschaften dies durch Lohnmoderation ermöglichen, kommen die Schuldner in Schwierigkeiten, weil sie bei der Kreditaufnahme mit weiter hohen Preissteigerungsraten gerechnet hatten. Viele Firmen und Privathaushalte geraten in den Konkurs. Eine Disinflation oder gar Deflation erhöht die Wettbewerbsfähigkeit, aber vorher führt sie durch ein Tal der Tränen. Zweifel, ob eine an kurzfristigen Belangen orientierte Politik in der Lage ist, das durchzustehen, sind berechtigt.

Silvio Berlusconi wollte das Problem durch den Austritt Italiens aus der Währungsunion sowie mit einer offenen Abwertung lösen. Dazu hatte er im Herbst 2011 bereits Sondierungsgespräche mit anderen Regierungen des Euro-Raums geführt. Er hatte sich mit dem griechischen Ministerpräsidenten Papandreou abgesprochen, der sein Volk mit einem Referendum faktisch vor die Wahl zwischen einem Austritt und einer harten Austeritätspolitik stellen wollte. Beide mussten dann aber im November 2011 fast zeitgleich zurücktreten. Übergeordnete politische Interessen, aber auch das Interesse des Bankensystems, standen dem Austritt entgegen.

Mario Monti versuchte daraufhin den alternativen Weg der realen Abwertung, indem er die Gewerkschaften auf dem Wege über eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zu Lohnzugeständnissen zwingen wollte. Sein Versuch misslang auch deshalb, weil die EZB seinerzeit mit ihren großzügigen Finanzhilfen den Druck von den italienischen Tarifpartnern nahm. Enrico Letta folgte ihm ohne ein sichtbares Konzept.

Matteo Renzi hat bislang nicht erkennen lassen, dass er die Natur des italienischen Problems verstanden hat. Dieses Manko teilt er mit praktisch der gesamten europäischen Politikelite von Brüssel über Paris bis Berlin, die immer noch glaubt, Europa leide unter einer bloßen Finanz- und Vertrauenskrise.