Die Krise ist noch längst nicht vorbei

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Project Syndicate, 25. April 2012

MÜNCHEN: Nachdem das eine Billion Euro schwere Kreditprogramm der Europäische Zentralbank die globalen Finanzmärkte zunächst beruhigt zu haben schien, steigen die Zinsen für die Staatspapiere Italiens und Spaniens nun wieder an und bewegen sich inzwischen auf die 6%-Marke zu.

Das mag zwar keine Belastungsgrenze sein, jenseits derer die Schuldenlast untragbar wird. Immerhin hatten die Zinsen in Südeuropa im Jahrzehnt vor der Einführung des Euro bei deutlich mehr als 10% gelegen. Selbst Deutschland musste den Inhabern von Staatsanleihen damals Zinsen von mehr als 6% zahlen. Dennoch signalisieren die Märkte offenbar  wachsende Zweifel, ob Spanien und Italien ihre Schuldenlast werden tragen können und wollen.

Das Hauptproblem ist Spanien. Die  private und öffentliche Auslandsverschuldung Spaniens ist größer als die von Griechenland, Portugal, Irland und Italien zusammen genommen, und sie liegt wie jene von  Griechenland, Portugal und Irland in der Gegend von 100% des BIP (genau 93%) . Ein Viertel der Erwerbspersonen und die Hälfte der Jugend Spaniens sind arbeitslos, weil das Land durch den kreditfinanzierten Immobilienboom zu teuer geworden war und seine  Wettbewerbsfähigkeit verloren hatte. Das Leistungsbilanzbilanzdefizit liegt trotz des rezessionsbedingten Rückgangs der Importe immer noch bei 3,5% des BIP, und wegen der Wirtschaftsflaute wird Spanien die von der EU vorgegebenen Zielwerte für das staatliche Budgetdefizit verfehlen.

Die spanischen TARGET-Schulden bei der EZB wuchs von Februar bis März um 55 Mrd. Euro, weil eine Kapitalflucht  in diesem Umfang kompensiert werden musste. Seit Juli 2011 hat die spanische TARGET-Schuld um 199 Mrd. Euro zugenommen. Die  Kapitalflucht hat den Kapitalimport der Jahre 2008 bis 2010 inzwischen vollkommen kompensiert. Summiert über die Zeit vom Beginn des ersten Krisenjahres (2008) bis jetzt hat Spanien sein gesamtes Leistungsbilanzdefizit mit der Notenpresse finanziert.

In Italien, wo der Leistungsbilanzsaldo in den letzten zehn Jahren von etwa plus zwei Prozent des BIP auf minus drei Prozent gefallen ist, sieht es kaum besser aus. Dort wuchs die TARGET-Schuld von Februar auf März um 76 Milliarden Euro. Seit Juli 2011 kamen insgesamt 276 Mrd. Euro zusammen. Auch aus Italien flieht das Kapital nach den Maßnahmen der EZB noch schneller als vorher.

Inzwischen ist klar, dass die EZB diese Kapitalflucht aus Ländern wie Spanien und Italien großenteils selbst verursacht hat, denn der billige Kredit, den sie bot, hat das private Kapital regelrecht in die Flucht geschlagen. Zweck der Maßnahmen der EZB war es, wieder Vertrauen zu schaffen und den Interbankenmarkt wiederherzustellen. Dabei war sie offenkundig nicht besonders erfolgreich.

Und nun sieht es aus, als ob auch Frankreich wackelt. Durch die Kapitalflucht vom Juli 2011 bis zum Januar 2012 sind die französischen TARGET-Schulden um 95 Mrd. Euro gestiegen. Auch Frankreich hat durch den billigen Kredit, den der Euro in den ersten Jahren brachte, seine Wettbewerbsfähigkeit verloren. Nach einer gerade veröffentlichten Studie von Goldman Sachs muss das französische Preisniveau relativ zum Eurodurchschnitt um gut 20% sinken. Auch Frankreich muss  also real abwerten, wenn es im Euroraum wieder wettbewerbsfähig werden will.

Italien muss um 10% bis 15% abwerten und Spanien um rund 20%. Zwar müssen Griechenland und Portugal sogar um 30% bzw. 35% billiger werden, aber auch die Zahlen für Spanien und Italien sind hoch genug, um Angst vor der weiteren Entwicklung der Eurozone zu begründen. Nur unter großen Mühen und Inkaufnahme einer Stagnation von einem Jahrzehnt lassen sich diese Ungleichgewichte abbauen, wenn überhaupt. Für Griechenland und Portugal wird es eng in der Eurozone.

Viele wollen das Problem durch immer mehr billigen Kredit lösen, der durch öffentliche Kanäle, seien es die Rettungsfonds, Eurobonds oder die EZB, vom gesunden Kern der Eurozone in den problembelasteten Süden geleitet wird. Aber dies würde die Sparer und Steuerzahler der Kernländer in unfairer Weise zwingen, ihr Kapital dem Süden zu Bedingungen zur Verfügung zu stellen, denen sie niemals freiwillig zustimmen würden.

Schon bis heute sind die Ersparnisse der Deutschen, Holländer und Finnen zu 15.000, 17.000 bzw. 21.000 Euro pro Erwerbstätigen von marktgängigen Anlagen in bloße Ausgleichsforderungen gegen die EZB verwandelt worden. Niemand weiß, was diese Forderungen noch wert sind, sollte die Eurozone zerbrechen.

Vor allem aber würde die öffentliche Dauerversorgung mit billigem Kredit letztlich zu einem Siechtum, wenn nicht zum wirtschaftliche Kollaps Europas führen, weil die Eurozone so zu einem Zentralverwaltungssystem mit staatlicher Investitionssteuerung werden würde. Ein solches  Systeme kann nicht funktionieren, weil es den Kapitalmarkt als wichtigstes Steuerungssystem unserer Wirtschaftsordnung ausschaltet. Man kann sich nur wundern, wie bedenkenlos sich die europäischen Politiker auf diese schiefe Bahn begeben haben.

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