Hans-Werner Sinn - Deutschlands Wahrsager

Autor/en
Wolfram Weimer
Presseecho, ntv.de, 07.07.2015.

Er gilt als Deutschlands wichtigster Ökonom und er hat die Griechenlandkrise genau vorhergesagt. Nun warnt er vor Straßenschlachten wie Plünderungen und empfiehlt dringend den Grexit.

Im Griechenland-Drama spricht Deutschland mit leiser Stimme. Angela Merkel achtet - selbst wenn wilde, linke Männer aus Athen sie wüst attackieren - auf einen ruhigen, super-sparsamen, konzilianten Ton. Wolfgang Schäuble hat sich auf eine gequält-zerknirschte Einsilben-Tonlage leidender Väter von missratenen Söhnen eingestimmt. Sigmar Gabriel verbreitet Frustrationsfloskeln eines enttäuschten Erziehungsberechtigten, Frank-Walter Steinmeier setzt auf therapeutische Beschwörung eines Selbstfindungsseminars, Joachim Gauck wählt das Pastoralreferentensprech und der entsetzte Bundesbankpräsident Jens Weidmann sucht Halt im technokratischen Legalistendeutsch. Einzig Sahra Wagenknecht läuft in dieser Krise zur rhetorischen Hochform auf und schreit die Klassenkampf-Agitation raus, damit man bis Athen wirklich hört, dass es auch in Deutschland noch Brachial-Sozialisten gibt. Auf bürgerlicher Seite ist Wolfgang Bosbach das Gegenstück dazu - die kräftige Stimme der mehrheitlichen Verärgerung über Griechenlands Extremistenkurs.

Zur Schlüsselfigur der kollektiven Meinungsbildung aber ist ein Nicht-Politiker geworden: Hans-Werner Sinn. Der Präsident des Ifo-Instituts hat in vielen Talkshows, Leitartikeln und Interviews die Meinung der Deutschen zur Euro-Krise tief geprägt. Zugleich ist Sinn zur internationalen Stimme Deutschlands geworden, die gegen die Vergemeinschaftung von Staatsschulden und gegen eine überlockere Geldpolitik kämpft. Sinn sagt nämlich nicht bloß in analytischer Direktheit, was Deutschlands Mehrheit wirklich denkt. Er begründet seine Analyse auch so präzise und prognostisch, dass ihm die Rolle des Krisendeuters und Wahrsagers zugleich zugefallen ist. "Die Zeit" beschreibt Sinn als "ökonomischen Seismograph der Republik".

Sinn hat die dramatische Zuspitzung dieser Krise früh und genau vorhergesagt. Spitzenpolitiker und hohe Regierungsbeamte hören auf seinen Rat seither noch mehr als zuvor. In einer Rangliste der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ist Sinn ohnedies der einflussreichste deutsche Ökonom des Jahres 2014. Das dürfte 2015 kaum anders sein, auch wenn sich Marcel Fratzscher vom DIW in Berlin mit seiner neo-sozialdemokratischen Investitions-Ökonomie fleißig nach vorne kommuniziert.

In der Euro-Krise aber ist Sinn der große Erklärbär der Nation. Er kann komplexe Zusammenhänge in ein Narrativ kleiden, er hat eine fast metallene, schneidige Intelligenz und stets eine klare Position des Marktwirtschaftsverstehers. Sein markantes Äußeres mit dem Abraham-Lincoln-Schifferkrause-Bart untermalt seine professorale Eigenwilligkeit. Wenn er redet, dann lieben ihn die Zuhörer zwar nicht, aber sie respektieren ihn wie einen Arzt, der unangenehme Diagnosen vorbringt, das Operationsskalpell herzeigt und am Ende versichert, es könne alles gutgehen, wenn man nur marktwirtschaftlich vernünftig agiere.

"Plünderungen und Straßenschlachten"

Und da er in dieser Krise seit Monaten mit seinen Prognosen genau richtig liegt, ist seine Vorhersage für die kommenden Wochen interessant: "Das Ergebnis des Referendums wird vermutlich zum Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone führen, auch wenn die griechische Regierung mit der Entlassung des Finanzministers Varoufakis nun Verhandlungsbereitschaft signalisiert hat," prophezeit er. Kurzum: der Grexit wird kommen. Sinn argumentiert mit einer logischen Verkettung der Zwänge, in die sich Griechenland begeben hat. Die Euro-Partner könnten und wollten ein neues Rettungsprogramm mitsamt Schuldenschnitt jetzt nicht mehr realisieren. Die EZB wiederum dürfe keine Geldschleusen mehr öffnen. Damit drohten Griechenland binnen weniger Tage Versorgungsengpässe. Sinn sagt Plünderungen und Straßenschlachten voraus - wie einst bei der Staatspleite in Argentinien.

Er empfiehlt Athen den sofortigen Ausstieg aus der Eurozone, die rasche Einführung einer elektronischen Drachme. Europa müsse sich zudem eingestehen, dass die Milliardenhilfen weitgehend verloren sein dürften. Es gehe jetzt nur noch darum, nicht noch weiteres gutes Geld dem schon verbrannten nachzuwerfen. Sinn sieht die Ursache der europäischen Staatsschuldenkrise in zu großen Leistungsbilanzdefiziten. Das private Kapital habe sich aus Griechenland seit Jahren völlig zurückgezogen, aber die EZB habe Notenbankkapital in historisch einmaligen Dimensionen ersatzweise bereitgestellt. Insbesondere die 90 Milliarden Euro an ELA-Krediten für marode griechische Banken hält Sinn für unverantwortlich. Er fordert außerdem ein Beenden der Staatsanleihen-Käufe durch die EZB und kämpft wie ein geldpolitischer Löwe gegen die monetäre Staatsfinanzierung. Damit vertritt Sinn wie kein anderer die genuine Position Deutschlands nach außen.

Sinn trägt seine dramatischen Vorhersagen im sachlichen Ton eines Staatsanwalts vor. Er ist Westfale - das prägt. Und wie wenige Kollegen seines Faches mischt er sich bewusst und mit offenem Visier in die politische Debatte ein, selbst wenn er damit - wie bei seiner Kritik an den hohen Kosten der Zuwanderung - viele Feinde macht. So wie er das kurz vor der Bundestagswahl 2005 tat, als er mit 242 weiteren Wirtschaftswissenschaftlern den Hamburger Appell für wirtschaftspolitische Reformen in Deutschland verfasste. Oder so wie im Juli 2012 als Sinn mit 270 Ökonomieprofessoren einen Aufruf unterschrieb, der sich gegen eine "Vergemeinschaftung der Bankenschulden" innerhalb der Eurozone wendet.

Sein vehementes Eintreten für den Grexit hat ihn monatelang zum Sündenbock der linken Umverteiler werden lassen. Inzwischen spürt man allenthalben Respekt vor dem Mann, der klarer als viele andere diese Krise begriffen hat, erklären kann und den politischen Ausweg vorzeichnet.

Bei aller Kritik ist Sinn durchaus noch optimistisch für das große Szenario: "Ich glaube sogar, dass der Euro durch einen Austritt Griechenlands gestärkt würde. Dann wäre allen Regierungen klar, dass die Staatengemeinschaft nicht beliebig Rettungsschirme aufspannen kann und dass eine Politik der Verschuldung auch für Euro-Länder brandgefährlich ist. Das würde sich unmittelbar auf die Haushalte der anderen Euro-Länder auswirken und dazu führen, dass sie weniger stark über ihre Verhältnisse leben und den Gürtel enger schnallen." Und auch Griechenland hätte mit einer eigenen Währung und der Möglichkeit auf eine drastische Abwertung die Chance, wieder wettbewerbsfähig zu werden.

Die Amtszeit von Hans-Werner Sinn als Ifo-Präsident endet im März 2016, wenn er 68 Jahre alt wird und in den Ruhestand tritt. Bis dahin dürfte Sinn in der Griechenlandkrise die Gemüter noch kräftig aufmischen. Denn er sagt die unangenehme Wahrheit und wird so zum Wahrsager.

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