„Gott bewahre uns vor einem japanischen Szenarium“

Interview mit Hans-Werner Sinn, Sonntagszeitung, 03.01.2010, S. 42

Der Ökonom Hans-Werner Sinn über die Gefahr einer Stagnation, die notwenige Staatsverschuldung und die Reformresistenz der Banker

Was wünschen Sie sich für 2010?

Persönlich wünsche ich mir Gesundheit und dass ich die Arbeit am Institut weiterführen kann. Der Gesellschaft wünsche ich eine möglichst rasche Überwindung der Krise und Massnahmen, die verhindern, dass wir in eine Stagnation geraten.

Die Krise ist noch nicht vorbei?

Ich warne vor der Haltung, die Krise sei überwunden – wir sind noch mittendrin. Die Weltwirtschaft zieht dank des stürmischen Wachstums der asiatischen Länder wie China und Indien zwar wieder an. Deutschland und die Schweiz werden beim Export davon profitieren. Aber das wirkliche Problem ist noch nicht gelöst: Das Finanzsystem liegt nach wie vor in Scherben.

Wo stehen wir beim Aufräumen?

Die Banken sind noch lange nicht über den Berg. Denn der Löwenanteil der Abschreibungen auf toxische Papiere kommt erst noch im neuen Jahr. Bisher hat das westeuropäische Bankensystem etwa 700 Milliarden Dollar abschreiben müssen. Doch damit sind erst 42 Prozent der notwendigen Abschreibungen in den Bilanzen offengelegt.

Welche Folgen ergeben sich für den Konjunkturverlauf 2010?

Wir laufen Gefahr, dass der Aufschwung durch eine Kreditklemme abgewürgt wird. Denn die Banken, die durch die Abschreibungen Eigenkapital verloren haben, müssen ihre Kreditvergabe reduzieren, damit sie ihre Eigenkapitalvorgaben nach dem Baselsystem nicht verletzen. Die Banken schrumpfen und vergeben nur noch wenige, teure Kredite. Die Finanzierung der für den Aufschwung nötigen Investitionen ist damit gefährdet.

In der Schweiz behauptet die Regierung, es gebe keine Kreditklemme.

Eine Kreditklemme ist nicht so zu verstehen, dass man gar keine Kredite bekommt, sondern dass die Banken mangels Eigenkapital ausserstande sind, die Liquidität, die die Zentralbank bereitstellt, in vollem Umfang als Kredit an die Firmen weiterzureichen. Die Kreditknappheit erzeugt eine hohe Spanne zwischen den Zinsen auf Ausleihungen und den Zentralbankzinsen. Diese Spanne ist heute in den meisten westlichen Ländern höher als je zuvor.

Trotzdem streiten die Behörden eine Kreditklemme ab.

Die Politik streitet sie in allen Ländern ab. Kein Wunder, denn sonst wäre der Handlungsdruck für die Regierung noch grösser. Aber gerade die Schweiz ist in enormer Weise von dieser Kreditklemme betroffen: Der Abschreibungsverlust der Schweizer Banken relativ zum Sozialprodukt war der höchste auf der ganzen Welt nach den Bahamas.

Was bedeutet eine anhaltende Kreditklemme für die Konjunktur?

Möglicherweise eine langjährige Stagnation wie in Japan. Japan hat es nach der Immobilienkrise Anfang der 90er-Jahre verpasst, seine Banken mit genügend frischem Eigenkapital zu versorgen. Mit der Folge, dass viele Banken zusammenbrachen. Die Kreditvergabe wurde gedrosselt, obwohl die Zentralbank den Zins auf null senkte. Die Wirtschaftsakteure stellten sich auf eine Stagnation ein. Die Investitionen blieben aus, und die Preise fingen an zu fallen. Die deflationäre Spirale hat bis heute angehalten. Eine solche Entwicklung ist absolut gefährlich, weil es kaum ein wirtschaftspolitisches Mittel gibt, ein Land aus einer chronischen Deflationsspirale zu befreien. Gott bewahre uns vor einem japanischen Szenarium. Wir brauchen dringend Massnahmen, die das verhindern.

Deshalb fordern Sie von Staaten Konjunkturpakete, um die Nachfrage anzukurbeln. Für diese keynesianische Politik waren Sie bisher nicht.

Ich habe bisher meistens gegen staatliches Schuldenmachen argumentiert, weil wir keine gesamtwirtschaftliche Nachfrageschwäche hatten. Eine Ausnahme war nur das Jahr 2001, nach dem Anschlag auf das World Trade Center. Ich gebe als Arzt ja auch kein Penizillin, wenn der Patient an einem Virus erkrankt ist. Aber jetzt ist der Patient mit dem Bakterium der keynesianischen Krise infiziert. Dagegen müssen wir mit dem keynesianischen Antibiotikum des Schuldenmachens vorgehen. Die Verschuldung hat die Welt vor dem Absturz gerettet.

Wie lange soll die Politik der Verschuldung anhalten?

2010 dürfen wir das Budget des Staates noch nicht konsolidieren, sondern müssen uns weiter verschulden. Man darf jetzt nicht meinen, wir können uns das nicht mehr leisten. 2011 wird sich der Aufschwung dann hoffentlich so weit gefestigt haben, dass die Staaten die Schuldenaufnahme wieder reduzieren können.

Die Verschuldung vieler Staaten ist heute schon riesig. Das ist doch ein Damoklesschwert.

Ja, die Gefahr ist gross. Wir haben ein demografisches Problem in Westeuropa: Wir haben nicht genug Kinder und riesige Alterslasten. Schon die implizite Staatsverschuldung, die wir unseren Kindern über das Rentensystem aufbürden, ist riesengross. Und jetzt kommt die Staatsverschuldung durch die Krisenbewältigung hinzu. Das beunruhigt mich erheblich.

Sie proklamieren trotzdem, dass der Staat weiterhin auf Pump leben muss?

Wir haben keine andere Wahl. Denn es ist immer noch besser, den Kindern eine grosse Staatsschuld zu vererben, als ihnen abermals einen Scherbenhaufen zu hinterlassen. In der Finanzkrise 1929 inter venierten die Staaten nicht, mit der Folge, dass die Wirtschaft zusammenbrach und es politische Umwälzungen gab, die tatsächlich zum Scherbenhaufen geführt haben. Solche Gefahren kann man unter keinen Umständen eingehen. Es ist ein Abwägen zwischen zwei Übeln ohne Alternative.

Parallel zu den Staaten haben auch die Notenbanken ihren Geldhahn mit billigem Geld offen. Was bringt das?

Leider verpufft die Politik des billigen Geldes. Die Banken geben es nicht den Firmen weiter, sondern erhöhen damit ihre eigenen Margen. Bevor das billige Geld der Notenbank nützt, müssen die Banken rekapitalisiert werden.

Davon wollen die nichts wissen.

Wundert Sie das? Aktionäre hätten nichts vom neuen Eigenkapital. Ihre Rendite würde verwässert, der Staat redet beim Geschäft mit, die Millionen-Gehälter der Chefs würden gekappt. Klar wollen sie den Staat draussen lassen. Aber die Gesellschaft muss die Banken zwingen, Eigenkapital aufzunehmen, damit sie in die Lage versetzt werden, mehr Kredite zu vergeben.

Wie soll das gehen?

Man muss ihnen die Auflage machen, Aktien auszugeben. Findet sich kein Käufer, springt der Staat ein. Das ach so sozialistische Deutschland ist nicht in der Lage, einen solchen Schritt zu tun, während erzkapitalistische Länder wie Amerika und Grossbritannien ihre Banken zwangskapitalisiert haben. Dort mussten die grossen Banken staatliches Eigenkapital annehmen, ob sie wollten oder nicht.

Aber die US-Banken haben schon fast das ganze Staatsgeld zurückbezahlt. Zu früh?

Der Staat hätte besser daran getan, die Mindesteigenkapitalquoten heraufzusetzen, um für die Zukunft einen höheren Eigenkapitalpuffer zu haben. Die Chance, bei den Banken eine Änderung des Geschäftsmodells durch zusetzen, wurde verpasst.

In der Schweiz drängt die Nationalbank darauf, dass Banken ihre Bilanzen reduzieren.

Das ist der falsche Weg. Jede Massnahme, die die Banken zwingt, die Bilanz zu reduzieren, ist absolut kontraproduktiv in dieser Krise. Man muss die Eigenkapitalquote nicht durch Bilanzreduktion erhöhen, sondern durch Eigenmittelerhöhung.

Wie hoch müsste die Eigenkapitalquote sein?

Der Basler Ausschuss hat vorgeschlagen, das Eigenkapital zu verdoppeln und die Risikogewichtung zu erhöhen. Das geht in die richtige Richtung. Klar ist, die derzeitige Kernkapitalquote von 4 Prozent des Baselsystems ist zu tief. Wobei schon der Begriff Kernkapitalquote eine Mogelpackung ist. Denn eine Kern Quote von 8 Prozent, die komfortabel scheint, ergibt eine Eigenkapitalquote in der Bilanz von weniger als 2 Prozent, wie die Fälle Deutsche Bank und UBS zeigen. Das sind gefährlich niedrige Eigenkapitalwerte. Sie erzeugen unseriöse Geschäftsmodelle für die Banken, die zum Zocken verleiten, um hohe Renditen zu erzielen.

Müsste man die Banken auch zwingen, die Boni ins Eigenkapital zu stecken, um die Zockerei zu verhindern?

Nein, der Bonus geht den Staat nichts an. Das ist Sache der Eigentümer. Das Problem ist nicht die falsche Anreizstruktur für die Manager, sondern die falsche Anreizstruktur für die Aktionäre. Sie treiben die Manager an, hohe Risiken einzugehen, um hohe Eigenkapitalrenditen für sie zu erzielen. Die Gewinne werden privatisiert, doch geht etwas schief, ist die Haftung beschränkt. Die Aktionäre haften nur mit dem geringen Eigenkapital, das sie eingesetzt haben, nicht mit ihrem persönlichen Vermögen.

Sind sie für eine Boni-Steuer, wie sie Grossbritannien und Frankreich diskutieren?

Nein, das halte ich für staatliche Willkür. Das ist mit meiner Vorstellung eines effizienten und gerechten Steuersystems nicht vereinbar. Man wird automatisch eine andere Bonusstruktur bekommen, wenn die Aktionäre sich stärker an den Verlusten beteiligen müssen.

Sind noch andere Regulierungen als die Erhöhung des Eigenkapitals nötig?

Ich warne von Überregulierungen. Wenn ich im Detail reguliere, entstehen immer wieder neue Schlupflöcher. Wenn die Eigentümer indes wegen der höheren Eigenkapitalunterlegung einen grösseren Teil der Verluste tragen müssen, werden sie von ihren Managern insgesamt vorsichtigere Geschäftsmodelle verlangen. Allerdings gibt es Missbrauchs- Tat bestände, die man nur durch eine direkte Regulierung in den Griff bekommt. Zum Beispiel den Missbrauch der Verbriefungen.

Bankenkritiker sagen, dass sich die Bankenlobby durchsetzen kann und am Schluss nichts kommt. Befürchten sie das auch?

Ja, es geht schleppend voran. Die Banken kriegen wieder Oberwasser und versuchen, den Prozess zu unterminieren. Ich hoffe allerdings, dass die Gesellschaft die Krise nicht nutzlos verstreichen lässt und durchsetzt, dass eine funktionierende Bankenregulierung aufgestellt wird.