"Wir müssen viel anpacken"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Capital, 19.02.2004, 28-30

Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn über Schröders Machtverzicht, die jetzt notwendigen Reformschritte und den Tarifabschluss in der Metallindustrie.

CAPITAL: Professor Sinn, der personelle Umbruch an der SPD-Spitze weckt Ängste, Rot-Grün könne bei den Sozialreformen zurückrudern. Ist der Aufschwung in Deutschland in Gefahr?

Sinn: Nein. In den nächsten Monaten hängt unsere Konjunktur nicht von den politischen Entscheidungen im Inland ab, sondern von der Entwicklung der Weltwirtschaft - allen voran in den USA. Und da sieht es weiterhin gut aus.

CAPITAL: Aber die neue Unsicherheit über den politischen Kurs beeinträchtigt das Vertrauen der Konsumenten noch mehr.

Sinn: Ja, das mag sein. Aber Konjunktur ist nicht alles. Wir brauchen langfristiges Wachstum der Produktionskapazität. Das kommt nicht über mehr Konsum zu Stande, sondern über mehr Ersparnis, weil damit Investitionen finanziert werden. Unser Problem ist weniger das schwache Konsumklima als vielmehr die Verunsicherung der Investoren. Die macht mir viel mehr Sorge. Damit die Firmen wieder mehr Vertrauen schöpfen, müssen sich die Standortbedingungen in Deutschland verbessern.

CAPITAL: Die Unternehmen haben Gerhard Schröders bisherigen Reformkurs begrüßt. Das schlägt sich beim Geschäftsklima-Index, der in den letzten Monaten stark gestiegen ist. Warum zahlen sich für den Kanzler die Reformen nicht beim Wähler aus?

Sinn: Nachdem er in der ersten Amtszeit sehr wenig gemacht hat, schritt Schröder im März vergangenen Jahres endlich zur Tat. Er hat die Deutschen aus ihrem süßen Traum vom grenzenlosen Sozialstaat aufgeweckt - und ist dafür vom Volk abgestraft worden, weil die Wirklichkeit weit weniger angenehm ist. Wenn die angefangenen Reformen jetzt nicht weitergeführt werden, wäre das für die Wachstumschancen der nächsten Jahrzehnte sehr schlimm. Ob es so kommt, weiß ich nicht. Ich bin ja kein Hellseher.

CAPITAL: Der künftige SPD-Chef Franz Müntefering kündigte schon an, er wolle "weniger Hektik" bei weiteren Reformen.

Sinn: An sich ist das nichts Schlechtes. Hauruck-Entscheidungen in nächtlichen Sitzungen führen häufig zu inkonsistenten Entscheidungen. Beim Reformkompromiss im vergangenen Dezember hätte ich mir mehr Ruhe gewünscht - dann wären im Vermittlungsausschuss vielleicht etwas besser überlegte Resultate herausgekommen. Aber klar ist eben auch: Eine generelle Verlangsamung des Reformprozesses ist alles andere als sinnvoll.

CAPITAL: Trauen Sie Müntefering Modernisierung zu?

Sinn: Ihm gebührt a priori Vertrauen. Ich kann mir sogar vorstellen, dass ein Parteichef Müntefering bestimmte Reformen schneller durchbringt als ein SPD-Vorsitzender Schröder, weil er mehr Vertrauen bei den Genossen genießt und sie deshalb eher mitziehen kann. Denn das ist ja das Paradoxon in unserem Land: Nur derjenige, der unverdächtig ist, die Errungenschaften des Sozialstaats leichtfertig preiszugeben, kann schmerzhafte Einschnitte durchsetzen.

CAPITAL: Was muss die Regierung jetzt als erstes tun?

Sinn: Sie muss viel auf einmal anpacken: von einem neuen Steuersystem bis zum Umbau bei der Rente. Für unsere Wohnstandsentwicklung in den nächsten 10 bis 20 Jahren ist der Arbeitsmarkt besonders wichtig. Den müssen wir jetzt dringend flott machen, und zwar vor allem durch einen Ausbau des Niedriglohnsektros. Sonst können wir dem internationalen Konkurrenzdruck, der durch die EU-Osterweiterung noch wächst, nicht standhalten.

CAPITAL: Dagegen wehren sich die SPD-Traditionalisten mit Händen und Füßen. Gibt es die Möglichkeit für ein Zugeständnis, mit dem Sie als liberaler Ökonom leben könnten?

Sinn: Mit der Ausbildungsplatzabgabe könnte ich mich am ehesten anfreunden. Da geht es um unsere Kinder, die auf einen ordentlichen Lebens- und Berufsweg gebracht werden sollen. Dafür hat nicht nur der Staat eine Verantwortung, sondern auch die Wirtschaft. Da kann man der SPD-Linken entgegenkommen. Dabei darf man aber eines nicht vergessen: Das Problem ist weniger, dass nicht alle Interessenten einen Ausbildungsplatz bekommen, sondern, dass zu wenige junge Leute an einer Lehrstelle interessiert sind.

CAPITAL: Gewerkschaften und Arbeitgeber müssen beim Kampf gegen die Jobkrise mitziehen. Schafft der Tarifabschluss in der Metallindustrie Beschäftigung?

Sinn: Nein, er geht über den Inflationsausgleich hinaus und berücksichtigt nicht, dass wir zur Korrektur unserer international extrem hohen Lohnkosten dringend eine Tarifsenkung für Arbeiter brauchen. Solche Abschlüsse drängen die Industrie sukzessive aus Deutschland heraus. Die Arbeitgeber unterschreiben die Verträge nur deshalb mit einem Lächeln, weil sie sich durch Outsourcing nach Osteuropa vor den Konsequenzen schützen. Aber die Volkswirtschaft, die keinen Weg findet, die Arbeitslosen in anderen Sektoren unterzubringen, kann nicht auswandern. Die Zeche zahlen wir alle durch ständig weiter steigende Soziallasten.

CAPITAL: Immerhin haben die Tarifpartner mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit vereinbart - und dafür einiges Lob erhalten.

Auch dieser Teil des Vertrags befriedigt mich nicht, weil vorgesehen ist, dass die Mehrarbeit bei vollem Lohnausgleich geleistet werden soll. Das senkt die Lohnkosten nicht und sichert deshalb keine Jobs. Die Beschäftigung in der Industrie befindet sich mit beängstigender Geschwindigkeit auf Talfahrt. Aber diejenigen, deren Jobs dank des Kündigungsschutzes sicher sind, können mit großem Starrsinn weiterhin Einkommenserhöhungen herausquetschen. Das ist der reinste Irrsinn.

CAPITAL: Wie lässt sich die Arbeitsmarktmisere meistern?

Sinn: Die beste Möglichkeit ist, den Kündigungsschutz erheblich zu lockern. Dann liegen die Lasten der Arbeitslosigkeit nicht bei den jungen Leuten, die in den Arbeitsmarkt eintreten - sondern sie werden von den Gewerkschaftsmitgliedern selbst gespürt. Ohne Kündigungsschutz gäbe es den ganzen Zauber nicht: Die Gewerkschaften wären lammfromm.

CAPITAL: Sind so weit gehende Reformen in Deutschland überhaupt möglich, wenn schon zehn Euro Praxisgebühr wusreichen, um eine nationale Wutwelle loszutreten?

Sinn: Wenn die Vernünftigen dieses Landes zusammenstehen, müssten Reformen eigentlich möglich sein. Dem Kampf darf man nicht ausweichen - es geht um mehr als die Sonderinteressen der Gewerkschaften. Ich kann allerdings nicht ausschließen, dass wir Deutschen reformunfähig sind, weil wir schon zu weit in Richtung Sozialstaat gegangen sind. Schon jetzt beziehen 40 Prozent der Wähler ihr Geld aus Rente, Pension, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Bafög und ähnlichen Transfers. Diese Gruppe ist in der Lage, aus Eigennutz alle Strukturreformen zu verhindern. Das wäre aber kurzsichtig. Am Ende brächte eine Blockadehaltung das ganze Boot zum Kentern.

Das Interview führten Henning Baethge und Claudio De Luca