"Voller Effekt wirkt erst in zehn Jahren"

Interview mit Hans-Werner Sinn, DER STANDARD, 18./19.10.2003, 2

STANDARD: Der Bundestag hat am Freitag die nächsten Stufen der Arbeitsmarktreform beschlossen. Trägt dies dazu bei, mehr Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen?

Sinn: Leider nicht. Die Wirkung, die von der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe hätte ausgehen können, wird wieder zunichte gemacht. Die Zumutbarkeit ist jetzt so definiert, dass der Lohn mindestens das ortsübliche Vergleichsniveau erreichen muss. Aber zu diesem ortsüblichen Vergleichsniveau sind in der Vergangenheit nicht genug Arbeitsplätze entstanden. Der ursprüngliche Ansatz war, das Anspruchsniveau der Menschen gegenüber einer Beschäftigung zu senken, sie zu veranlassen, sich auch mit niedrigeren Löhnen zufrieden zu geben.

STANDARD: An diesem Wochenende gibt es den Pensionsgipfel. Ist eine Hinaufsetzung des Pensionsalters von 65 auf 67 Jahre die zentrale Lösung?

Sinn: Die Hinaufsetzung ist eine sinnvolle Maßnahme, aber sie ist nur ein Stück Mangelverwaltung. Eine wirkliche Lösung sähe anders aus: Der Beitragssatz zur Rentenversicherung muss auf 20 Prozent eingefroren werden, auch der Bundeszuschuss. Dies hätte zur Folge, dass die Renten sich bis zu den Krisenjahren in dreißig Jahren relativ zu den Bruttolöhnen halbieren werden. Diese Renten müssen dann erhöht werden. Zum einen durch eine Rente für Eltern, die von allen Erwerbstätigen getragen wird, zum anderen durch die Riester-Rente. Wer keine Kinder hat, muss das Rentenniveau mit Ersparnissen selbst aufstocken.

STANDARD: Opposition und Regierung haben sich bisher auf ein gemeinsames Projekt verständigt, die Gesundheitsreform. Jetzt wird über die Reform der Krankenversicherungen diskutiert. Zeigt das nicht, dass man stets hinterherhinkt?

Sinn: Wenn die Menschen Waren und Dienstleistungen kaufen, werden die Preise auch nicht nach ihrem Einkommen gestaffelt. Insofern soll der Preis für alle gleich sein, wenn die Leistungen gleich sind. Man kann alternativ erwägen, die Krankenversicherungen zu privatisieren, was langfristig der sinnvollere Weg wäre. Es ist nicht einzusehen, wieso Bereitstellung von Krankenversicherungsschutz eine Staatsaufgabe ist.

STANDARD: Was muss geschehen, dass man endlich vom Diskutieren zum Machen kommt?

Sinn: Es wird schon agiert, aber nicht genug. Was fehlt, ist ein Ansatz, die Gewerkschaften in ihre Schranken zu weisen. Da haben sich die großen Parteien noch nicht getraut.

STANDARD: Aber die SPD-Regierung hat den Gewerkschaften schon viel zugemutet. So wurde etwa der Kündigungsschutz gelockert.

Sinn: Zweifelsohne ist man sehr viel weiter, als man das vor einem Jahr gedacht hat. Aber gemessen an dem, was ökonomisch notwendig wäre, um Deutschland wieder auf Kurs zu bringen, muss man sehr viel mehr tun.

STANDARD: Wann greifen die Reformen?

Sinn: Strukturelle Reformen brauchen lange Zeit, bis die Märkte sich verändern und reagieren. Ich denke, der volle Effekt wird zehn Jahre dauern, aber auch schon innerhalb einer Legislaturperiode wird man Effekte sehen. (afs)

ZUR PERSON
Hans-Werner Sinn (55) ist seit 1999 Präsident ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München. Der Volkswirt ist Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität München. Anfang Oktober erschien sein jüngstes Buch: "Ist Deutschland noch zu retten?"