"Es ist, wie es ist: Der Markt ist nun einmal nicht gerecht."

Interview mit Hans-Werner Sinn, Neues Deutschland, 03./04.04.2004, S. 20

Professor Hans-Werner Sinn über Chaos, Chancen und den falschen Traum vom Schlaraffenland

Sie haben dem ND einen Brief geschrieben, da Sie sich von unserem Satiriker Ernst Röhl missverstanden fühlen. Vertreten Sie etwa nicht die Position, die Ostdeutschen verdienen zu viel?

Es ist falsch, mein 500-seitiges Buch "Ist Deutschland noch zu retten?" auf diese eine Formel zu verkürzen. Ich weise nur darauf hin, dass die Marktwirtschaft nicht in der Lage ist, ungeachtet der Niedriglohnkonkurrenz aus Osteuropa ein rasche Lohnangleichung mit dem Westen herbeizuführen. Die Niedriglohnkonkurrenz verlangt sogar vielfach eine Lohnkorrektur nach unten, wenn ein Fiasko auf den Arbeitsmärkten vermieden werden soll.

Also verdienen die Ostdeutschen doch zu viel.

Nein, so kann man es nicht sagen. Ich wünschte, sie verdienten mehr. Nur, wenn die Löhne zu hoch sind, geht der Unternehmer, der wählen kann, nach Polen statt in die neuen Länder. Der Unternehmer steht im Wettbewerb. Deshalb investiert er dort, wo er die Arbeit am billigsten bekommt. Die bayerischen Grenzgebiete sind hiervon übrigens besonders stark betroffen. Auch dort wird der Lohn deutlich sinken müssen, um eine weitere Entleerung zu verhindern. Das alles hat mit Gerechtigkeit nicht viel zu tun, aber es ist, wie es ist. Der Markt ist nun einmal nicht gerecht, und wer Gerechtigkeit gegen ihn durchsetzen will, indem er Löhne mit Verteilungszielen befrachtet, erzeugt nur Chaos.

Müssen wir also die Verarmung der Arbeiter akzeptieren?

Nein, keineswegs. Der Sozialstaat kann die geringen Löhne durch Zuzahlungen erhöhen. Das ist der einzig gangbare Weg, die Löhne so niedrig zu halten, dass Arbeitsplätze entstehen, und zugleich Einkommensverluste für die Betroffenen zu verhindern. Heute wird viel Geld ausgegeben, um Unternehmen zu subventionieren, die Werkhallen für Roboter bauen. Es ist viel besser, statt der Unternehmen die Menschen zu subventionieren. In einem System, das stattdessen versucht, Gerechtigkeit über die politische Festsetzung von Löhnen zu erzielen, sackt die Wirtschaftskraft zusammen. Dieser Versuch ist mit dem Kommunismus gescheitert.

Aber der Kapitalismus erzeugt viel Ungleichheit.

So ist es. Jedoch kann man in der sozialen Marktwirtschaft den Konflikt zwischen dem Ziel der Gerechtigkeit und dem Ziel der Effizienz entschärfen. Dazu muss der Sozialstaat richtig konstruiert sein. Heute basiert er auf Lohnersatz. Lohnersatz heißt, dass der Staat Geld auszahlt, wenn man nicht arbeitet, und mit seiner Zahlung aufhört, wenn man es tut. Damit wird der Staat zum Konkurrenten der Wirtschaft, der die Lohnansprüche so hoch treibt, dass die Unternehmer nicht genügend viele Möglichkeiten finden, rentable Stellen zu schaffen. Arbeitslosigkeit ist die Folge. Der bessere Sozialstaat zahlt Zuschüsse zum Lohn und agiert als Partner der Wirtschaft. Dann sind die Menschen bereit, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, und zu niedrigeren Löhnen gibt es neue Jobs. Das ist insbesondere in den neuen Ländern ein großes Thema, denn sie haben es nicht verkraftet, dass ihnen der westdeutsche Sozialstaat übergestülpt wurde.

Mit Lohnzuschüssen entstehen keine Arbeitsplätze, es kommt nur zum Drehtür-Effekt: Tariflich abgesicherte Stellen werden in Billig-Jobs umgewandelt.

Falsch. Den Drehtür-Effekt gibt es zwar. Doch entstehen neue Arbeitsplätze, wenn der Lohn fällt, und er fällt, weil die Zuschüsse die Lohnansprüche senken. Die Investoren aus aller Welt kämen in die neuen Länder, wenn die Löhne niedriger wären. Außerdem würden viele Ostdeutsche ihr eigenes Einkommen verwenden, um die Leistungen zu kaufen, die ihre Mitbürger anbieten. Heute haben wir ja das absurde Phänomen, dass die Kaufkraft in den neuen Ländern dank der Transfers aus dem Westen die eigene Erzeugung um 45% übersteigt und dass die Wirtschaft dennoch nicht vom Fleck kommt. Der Überschuss fließt halt in andere Regionen ab, weil es im Osten nicht genug wettbewerbsfähiges Angebot gibt. Die neuen Bundesbürger kaufen lieber japanische Autos, spanischen Wein oder touristische Dienstleistungen auf Mallorca, als dass sie bereit wären, das Geld für die Dienstleistungen auszugeben, die ihre Landsleute anbieten. Sie sind sich gegenseitig zu teuer und daher nicht bereit einander die Leistungen abzukaufen. Schauen Sie nur auf die Taxis. Zu DDR-Zeiten waren die Taxis stets überbelegt, heute stehen sie meistens herum So ist es überall. Der ganze Arbeitsmarkt ist durch die Politik der übermäßig raschen Lohnangleichung kaputt gemacht worden.

Die öffentlichen Kassen sind bekanntlich knapp - wäre die "Aktivierende Sozialhilfe" nicht unbezahlbar?

Bei meinen Vorschlägen geht es nur um die Umschichtung vorhandener Mittel. Mittel kommen aus der bereits beschlossenen Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, aus der Absenkung des Eckregelsatzes der Sozialhilfe und aus der Umlenkung von Subventionen.

Voraussetzung, dass dies funktioniert, wären aber freie Stellen in großer Zahl. Die gibt es gerade im Osten nicht.

Es wird neue Arbeitsplätze geben, weil der Lohnanspruch der Menschen sinkt. Gleichwohl weiß niemand genau, wie schnell dies funktionieren wird. Es kann ein paar Jahre dauern, bis der volle Effekt am Arbeitsmarkt spürbar ist. Das ifo Institut hat deshalb vorgeschlagen, dass jeder notfalls bei seiner Kommune weiterhin die alte Sozialhilfe bekommen kann, wenn er dafür acht Stunden am Tag arbeitet. Die Kommune kann diese Arbeitnehmer auf Honorarbasis meistbietend an die Privatwirtschaft weiter verleihen.

Unsere Kinder haben studiert oder einen Beruf erlernt. Am Ende sollen sie Leiharbeiter oder Putzhilfe werden?

Das sollen sie nicht. Aber noch schlimmer ist es, wenn sie arbeitslos sind. Es ist immer noch besser, einen Job zu haben, den man nicht gelernt hat, als keinen Job. Jeder muss sich nach der Decke strecken. Wir sind nicht im Schlaraffenland. Wer das Falsche gelernt hat, hat Pech gehabt, wenn der Markt für seinen Beruf nicht da ist.

Sie wissen, dass das zynisch ist?

Das ist nicht zynisch, das ist die Realität. Weder ich noch jemand sonst kann das ändern. Wenn man sich für nichts zu fein ist und jeden Job annimmt, dann wird es einem irgendwann auch besser gehen.

Zu DDR-Zeiten gab es den Slogan: "So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben!" - Vertröstung auf bessere Zeiten. Nichts anderes tun Sie: Lieber heute Niedriglöhne, damit irgendwann die Lage auf dem Arbeitsmarkt besser wird. So was kann Politik nicht verkaufen.

So ist es. Politiker haben nur vier Jahre Zeit. Mit einem langem Szenarium kann man da nicht kommen. Dennoch: Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Strategie ein echtes Wirtschafts- und Jobwunder in den neuen Ländern erzeugen würde mit einer klaren Tendenz hin zur Konvergenz.

Und in der Politik sitzen Deppen, die das nicht verstehen?

Nein, aber nur die wenigsten Politiker sind Ökonomen. Denken Sie an Helmut Kohl und die Einheit. Er erwarb sich außenpolitisch große Verdienste, für das Ökonomische gilt das nicht.

Sind Sie etwa Lafontainist?

Oskar Lafontaine hatte in diesem Punkt tatsächlich die realistischere Alternative. Aber die Bürger wollten Träume statt Realitäten.

Man hat lieber dem Versprechen einer raschen Lohn-Angleichung geglaubt.

Es war ein schwerer Fehler, derartige Versprechungen abzugeben. Das haben meine Frau und ich schon 1991 in dem von uns zusammen verfassten Buch "Kaltstart" so geschrieben. Wir haben damals klargelegt, dass es nicht die Marktkräfte waren, die die Löhne im Osten festlegten. Schon 1990/1991, als die Unternehmen noch im Besitz der Treuhand waren, haben westdeutsche Arbeitgeber und Gewerkschaften, also die Konkurrenten der ostdeutschen Firmen, im Osten ihre Verbände gegründet und eine rasche Anpassung an das Westniveau vereinbart. Die Devise war: Wer auf unseren Märkten ohne Sprach- und Zollschranken anbieten will, der muss gefälligst auch westdeutsche Löhne zahlen. Die Einflussnahme der westdeutschen Konkurrenten hat den Aufschwung verhindert.

Gab es denn eine Alternative?

Nach der 1:1-Umstellung, als die Löhne etwa 30 Prozent des Westniveaus betrugen, hätte man ein Moratorium für Lohnerhöhungen bei Unternehmen bis zur Privatisierung verhängen müssen. Nirgendwo in der EU gab es derart niedrige Löhne, außer vielleicht in Portugal. Dies hätte Investoren aus Westdeutschland, anderen europäischen Ländern, aber auch aus Japan in Scharen angelockt. Aus der Position des Niedriglohnanbieters hätten die neuen Länder die europäischen Märkte aufrollen können. Sie hätten ihren vierzehnjährigen Vorsprung beim Eintritt in den europäischen Binnenmarkt, den sie gegenüber den anderen Comecon-Ländern hatten, nutzen können. Die Treuhand hätte Westinvestoren als mehrheitliche Partner gewinnen können und den Arbeitnehmern dann im Ausgleich für die Lohnzurückhaltung verbriefte Anteilsrechte am ehemals volkseigenen Vermögen austeilen können, wie es der Einigungsvertrag vorsah. Die Investoren hätten die Treuhandbetriebe flott gekriegt - nicht mit der alten Produktpalette und den alten Maschinen, aber mit derselben Arbeitnehmerschaft, die gut ausgebildet war und ein sozial funktionierendes Gefüge darstellte. Als Folge davon wären viele Arbeitsplätze geschaffen worden, und die neuen Bundesbürger hätten einen Grundstock an Vermögen gehabt. Später wären die Arbeitnehmer knapp geworden, was den Lohn hochgetrieben hätte. Ich bin fest davon überzeugt, dass es auf diese Weise eine fast vollständige Konvergenz über sagen wir mal 20 Jahre bis auf das Westniveau gegeben hätte. Leider wurde die Reihenfolge dieses Prozesses umgedreht. In der Folge blieben die Menschen vor den Werkstoren und wurden vom Sozialstaat aufgefangen. Wir haben hier ein riesiges Sozialsystem an die Stelle einer Marktwirtschaft gesetzt. Und jetzt steckt das ganze System in der Sackgasse.

Und Ihr Vorschlag, Löhne zu senken und mit Lohnzuschüssen zu ergänzen, soll der Ausweg sein?

So ist es. Wir brauchen den aktivierenden Sozialstaat, der vom Konkurrenten zum Partner der Wirtschaft wird. Dann kommen auch die neuen Länder wieder vom Fleck.