Den Menschen ist nichts vorzuwerfen

Interview mit Hans-Werner Sinn, tz, 18./19.09.2004, S. 2

ifo-Chef Hans-Werner Sinn gibt Gerhard Schröder Recht, aber:

Sind wir wirklich alle Schnorrer?

Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung: Gerhard Schröder hat Recht. Es gibt hier diese Mentalität. Doch sein Fehler ist, dass er ein ökonomisches Problem zu einem moralischen macht: Schließlich hat die Politik das System der vielen Einkommen vom Staat selbst geschaffen. Wenn der Staat viele Leistungen als Lohnersatz zur Verfügung stellt, lenkt er die Bürger weg von der Produktivität: Sie stecken ihre Energie nicht in die Leistung für andere, sondern in Formulare. Immerhin beträgt der Staatsanteil beim Volkseinkommen stolze 57 Prozent!

Wo wird besonders viel abgesahnt?

In den neuen Bundesländern haben einige Firmen statt ihrer Produkte und Kunden nur möglichst viele staatliche Fördertöpfe im Blick. Das Gleiche haben wir im Sozialsystem: Zwar ist es in der Regel angemessen, wenn Arbeitslose mit Geld unterstützt werden. Doch gleichzeitig bewirkt das auch eine Änderung ihres Verhaltens: Statt die Lebenskraft in Arbeit und Leistung zu stecken, strengen sie sich umso mehr an, das Geld auf dem Sozialamt zu "verdienen". Auch hei der Frühverrentung werden die Leute ja geradezu zum Mitnehmen aufgefordert, während gleichzeitig der Arbeitsmarkt kaputt gemacht wird.

Zielt Schröders Vorwurf der "Mitnahmeeffekte" somit auf die Geringverdiener?

Das Thema betrifft alle. Natürlich kassieren auch Besserverdienende ab: Sie holen sich das staatliche Geld dann aber über ihre Firmen.

Also: Deutschland einig Schnorrerland?

Moralische Wertungen führen hier nicht sonderlich weit. Die Menschen wollen einfach den größten Nutzen haben. Und man kann niemandem vorwerfen, Gesetze und staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen, die für ihn gemacht wurden. Statt Moralappelle abzugeben, sollte man eher die Spielregeln verändern.

Welche Spielregeln?

Die Hartz-Reform ist schon einmal ein richtiger Schritt: Die Arbeitslosenhilfe wird abgeschafft und durch Sozialhilfe ersetzt. Das heißt: Fürs Nichtstun gibt es weniger Geld. Durch bessere Regelungen beim Hinzuverdienst werden sie aber motiviert, etwas zu tun, und erhalten so mehr Geld.

Reicht die Änderung des Systems mit Hartz IV?

Generell sollten wir den Rückwärtsgang einlegen und die Reformen der sozialliberalen Koalition und die Helmut Kohls teilweise wieder rückgängig machen. 1970 war die Staatsquote immerhin zehn Prozent niedriger als heute. Das wären heute immerhin 200 Milliarden Euro. Doch nachdem das System in 30 Jahren aufgebaut wurde, braucht auch seine Änderung wieder 30 Jahre.

INTERVIEW: WALTHER SCHNEEWEIß