"Wir werden die Angst im neuen Jahr überwinden"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Finanz und Wirtschaft, 05.01.2005, S. 31

Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, zu den Aussichten der deutschen Volkswirtschaft

In Deutschland wird sich der Konsum im neuen Jahr von niedrigem Niveau aus leicht beleben, ist Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München, überzeugt. Für die gesamte deutsche Volkswirtschaft bleiben die Wachstumsaussichten jedoch bescheiden, wie der Konjunkturexperte im Gespräch mit "Finanz und Wirtschaft" darlegt Die eingeleiteten Strukturreformen, mit denen eine Vitalisierung angestrebt wird, versprächen zwar Besserung, brauchten aber ein paar Jahre, um ihre Wirkung entfalten zu können.

Herr Sinn, nach einem guten konjunkturellen Start im vergangenen Jahr ging das Wachstum im dritten Quartal merklich zurück. Befürchten Sie für die deutsche Wirtschaft eine Trendwende zum Schlechteren?

Wir befürchten eine Abschwächung des Aufschwungs. Nach dem Anstoss durch den Export rechnen wir zwar damit, dass die Binnenwirtschaft anzieht, aber viel zu wenig, als dass sich die Lage am Arbeitsmarkt verbessern würde. Der hohe Ölpreis, der starke Euro und die sich abschwächende Weltkonjunktur wirken zusammen und schwächen den Aufschwung, bevor er richtig begonnen hat.

Die Weltwirtschaft boomte bis Mitte 2004 wie seit 28 Jahren nicht mehr. Auch der deutsche Export profitierte da von, kaum aber das deutsche Bruttoinlandprodukt. Es dürfte real etwa 1,7% gewachsen sein. Weshalb diese Diskrepanz?

Deutschland steckt seit einem Jahrzehnt in einer Wachstumskrise, deren Ende nicht absehbar ist. Dass das hohe Wachstum von Weltwirtschaft und deutschen Exporten sich nur in so geringem Ausmass im BIP niederschlägt, liegt erstens daran, dass ein Teil der Exporte aus importierten Vorleistungen und Handelswaren besteht. Zusätzliche Exporte führen laut Statistischem Bundesamt nur noch zu zirka 45% zu einer zusätzlichen inländischen Wertschöpfung. 55% der Exportsteigerung sind ein durchlaufender Posten. Wir sprechen hier vom Basareffekt. Zweitens liegt die Erklärung im Schrumpfen der Binnennachfrage: Der private Konsum sank 2004 um 0,3%, und die Investitionen gingen 0,5% zurück.

Welches Wachstum sieht das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung für 2005?

Wir glauben nicht, dass sich im kommenden Jahr ein nennenswert höheres Wachstum einstellt. Rechnet man 2004 den Arbeitstageeffekt heraus, beträgt es nur 1,2%. Tut man dasselbe für 2005, kommt man auf eine Wachstumsprognose von 1,4%.

Erwarten Sie für 2005 in der Investitionstätigkeit und im Konsum eine Änderung?

Ja, wir gehen davon aus, dass die Investitionen wegen der vorausgegangenen kräftigen Belebung der Exporte anziehen werden und dass sich auch der Konsum leicht belebt. Gleichzeitig werden sich allerdings die von aussen kommenden Impulse abschwächen.

Was stimmt Sie denn für den Konsum optimistischer?

Das abgelaufene Jahr war wegen der Reformen und wegen der Unsicherheiten am Arbeitsmarkt das Jahr der Angst. Aber man kann nicht immer nur Angst haben. Ich glaube, dass wir diese Angst im neuen Jahr überwinden; die Erfüllung zu vieler Bedürfnisse wurde aufgeschoben. Das lässt sich nicht unbegrenzt fortführen, sodass eine gewisse Normalisierung im Konsum zu erwarten ist.

Die hohe Arbeitslosigkeit ist ein wesentlicher Grund für die Konsumflaute. Wie sehen Sie die Perspektiven am deutschen Arbeitsmarkt?

Wir erwarten, dass die Arbeitslosigkeit weiter zunehmen wird. Die Arbeitslosenquote dürfte von 10,3 auf 10,4% im Jahresdurchschnitt 2005 steigen.

Im produzierenden Gewerbe gehen immer mehr Arbeitsplätze verloren, gleichzeitig entstehen viele neue, oftmals schlechter bezahlte Stellen im Dienstleistungssektor. Ist das eine gesunde Entwicklung?

Dass Arbeitsplätze - zu welchen Löhnen auch immer - neu entstehen, ist eine gute Entwicklung. Doch es entstehen nicht genug Arbeitsplätze. Das ist das Problem unserer Zeit. Wenn die Menschen, die aus Tätigkeiten im produzierenden Bereich ausscheiden, sich an den Computer setzen und arbeiten würden, wäre das Problem gelöst. Doch zu viele gehen nicht in einen anderen Arbeitssektor, sondern zum Staat in die Arbeitslosigkeit.

Können Sie sich eine erfolgreiche Volkswirtschaft vorstellen, die ganz ohne Produktion auskommt?

England kommt dieser Vorstellung nahe. Die Engländer sind in der Lage, ihre Sprache zu exportieren - als Finanzdienstleister, über ihre Lehrinstitutionen und so weiter. Aber in dieser glücklichen Situation sind wir Deutschen nicht. Wir müssen die industrielle Arbeit in Deutschland verteidigen. Ohne sie wird der Wohlstand nicht zu halten sein.

Die deutsche Volkswirtschaft wird auch durch den Ölpreis und die Stärke des Euros, vor allem zum Dollar beeinträchtigt. Wie sehen Ihre Ölpreis- und Wechselkurserwartungen für 2005 aus?

Für den Ölpreis unterstellen wir im Jahresdurchschnitt einen Preis von 37 $ je Barrel, nach 38 $ im Jahr 2004. Für den Euro erwarte ich gegenüber dem Dollar 2005 durchaus einen weiteren Anstieg. Der Saldo der amerikanischen Leistungsbilanz ist stark negativ, und es gibt keine Anzeichen für eine Trendwende. Wir werden wohl das berüchtigte Überschiessen sehen.

Aber der schwache Dollar begünstigt durch Verbilligung und Stimulanz der amerikanischen Exporte doch eine bessere Entwicklung der US-Leistungsbilanz und somit eine Stärkung des Dollars?

Langfristig nimmt das amerikanische Leistungsbilanzdefizit sicher ab, aber kurzfristig - mit Sicht auf ein bis zwei Jahre - wird der Fehlbetrag wegen der hohen und infolge der Währungsverhältnisse verteuerten amerikanischen Importe zunächst noch zulegen und den Dollar tendenziell schwächen.

Aus dem Umfeld des US-Finanzministers John Snow sind amerikanische Interventionen zu Gunsten des Dollars frühestens ab einem Kurs von 1.45 $je Euro ein Thema. Ist ein solches Niveau 2005 tatsächlich möglich?

Möglich ist es. Wenn man die D-Mark von 1992 hochrechnet, kommt man auf solche Werte. Wir unterstellen für 2005 einen durchschnittlichen Wechselkurs von 1.35 $ je Euro, wobei er zeitweilig auch deutlich höher liegen kann. Die Europäer sollten allerdings schon jetzt am Devisenmarkt intervenieren.

Ist eine konzertierte Aktion zusammen mit den Japanern erforderlich?

Möglichst nicht. Die Europäische Zentralbank sollte dies allein tun. Sinnvoll wäre ja auch eine Abwertung des Euros gegenüber dem Yen.

In Deutschland sollen Reformen die wirtschaftlichen Strukturen verbessern und mehr Wachstum bewirken. Ist schon abzusehen, wann die Massnahmen die Wirtschaft vitalisieren werden?

Die auf den Weg gebrachten Reformen gehen in die richtige Richtung und werden auch wirken, davon bin ich überzeugt - wenngleich sie nicht ausreichen, um mit den Kräften der Globalisierung fertig zu werden. Nach einem Jahr dürfen allerdings noch keine Erfolge erwartet werden; nach fünf Jahren werden wir die Auswirkungen aber deutlich sehen.

Die Inflation ist derzeit in Europa kein herausragendes Thema - im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo die Notenbank den Leitzins kontinuierlich heraufsetzt. Wird sich die Europäische Zentralbank einer Zinserhöhung weiterhin entziehen können?

Ich sehe für Europa keine Inflationsgefahr und für die EZB auch sonst keinen Grund, den Leitzins im Jahr 2005 zu erhöhen. Dagegen spricht vor allem der Euro, der durch einen solchen Schritt eher noch gestärkt würde.

Deutschland schiebt einen enormen und stets wachsenden Schuldenberg vor sich her. Im abgelaufenen Jahr wurde das 3%-Kriterium des europäischen Stabilitätspakts wiederum verfehlt. Nun soll jedoch alles besser werden. Für 2005 wurde eine Neuverschuldung von 2,9% des BIP nach Brüssel gemeldet. Glauben Sie, dass diese Quote einzuhalten ist?

Nein, wir schätzen die Neuverschuldung auf 3,1 %, und das auch nur wegen einer Reihe einmaliger Buchungsergebnisse, die sich so nicht wiederholen lasse Ohne diese Effekte erwarten wir 3,4%.

Aber auch Brüssel scheint der Ankündigung von Finanzminister Hans Eichel zu glauben, hat man dort doch gleich das ganze Defizitverfahren gegen Deutschland eingestellt.

Dass ist ein politischer Kompromiss. Im Ecofin-Rat, der diesen Beschluss gefasst hat, sitzt eine ganze Reihe von Defizit-Sündern. Und die wollen sich schliesslich nicht selbst bestrafen.

Für 2005 steht eine Reform des Stabilitätspakts auf der Agenda. Das Defizitlimit soll geschleift werden. Ist zu befürchten, dass so viele Ausnahmeregelungen schaffen werden, dass letztlich niemand mehr den Pakt erfüllen muss?

Ich hielte es für sehr problematisch, wenn man den Pakt aufweichen würde. Aber man sollte ihn reformieren, um ihn wirkungsvoller zu machen. Einen praktikablen Vorschlag hat die European Economic Advisory Group gemacht. Sie empfiehlt, das Schuldenbestandskriterium in die Defizitgrenze mit einzubauen. Demnach soll sich ein Land mit einem Schuldenbestand von deutlich unter 60% ein höheres Defizit in Relation zum BIP erlauben können. Die Länder hätten einen Anreiz, in guten Zeiten zu sparen, um in schlechten Zeiten über mehr finanzielle Flexibilität zu verfügen.

Interview: Dieter W. Heumann
München

Zur Person

Hans-Werner Sinn ist seit 1999 Präsident des Ifo-Instituts für Wirschaftsforschung in München, eines der führenden Konjunkturforschungsinstitute in Deutschland. Vor zwanzig Jahren wurde er Ordinarius des Lehrstuhls für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der 56-jährige Westfale gehört nicht nur zahlreichen Gremien der Wissenschaft an, sondern ist auch in der Privatwirtschaft aktiv - seit dem Jahr 2000 als Aufsichtsrat der Münchener Grossbank HVB Group. Seine akademische Ausbildung begann der Autor zahlreicher Bücher an der Universität Münster. Zu den Stationen seiner Lehr- und Forschungstätigkeit gehören unter anderem Princeton University, Stanford University, London School of Economics und Hebrew University, Jerusalem.