"Es geht nicht um weniger Lohn"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Spiegel online, 20.06.2005

Mit seinem Vorschlag, die Betriebslöhne von älteren Arbeitnehmern zu senken und durch einen staatlichen Zuschuss zu ergänzen, hat der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn für Aufregung gesorgt. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE erklärt der Chef des Münchener ifo-Instituts, warum die Älteren davon sogar Vorteile hätten.

SPIEGEL ONLINE: Herr Sinn, Sie haben erklärt, dass Leistung und Lohn bei älteren Arbeitnehmern nicht mehr im richtigen Verhältnis stehen. Deswegen sollen Ältere auf Teile des Gehalts verzichten...

Hans-Werner Sinn: Wie bitte? Das ist ja wohl ein Witz. Ich will Frührentnern das Arbeiten erlauben und prognostiziere, dass das nicht zu dem Lohn geht, zu dem sie aus ihrem Unternehmen herausgedrängt wurden. Das ist etwas anderes. Das Grundproblem am deutschen Arbeitsmarkt ist, dass zwei Gruppen in besonderem Maße von der Arbeitslosigkeit betroffen sind, weil sie gemessen an ihrer Produktivität zu teuer sind: Gering Qualifizierte und ältere Arbeitnehmer. Mit wachsendem Alter lässt die Produktivität häufig nach, der Lohn aber steigt weiter, jedenfalls fällt er nicht. Deswegen trennen sich Unternehmen von ihren älteren Mitarbeitern. Und das, obwohl man sie häufig noch gut gebrauchen kann. Die Älteren herauszuwerfen ist weder human noch volkswirtschaftlich effizient. Da müssen wir gegensteuern.

SPIEGEL ONLINE: Indem die Älteren auf Lohn verzichten, um im Job zu bleiben?

Sinn: Nein. Wer im alten Job zum alten Lohn weiterarbeiten kann und will, ist von dem Vorschlag nicht betroffen. Nur diejenigen, die in die Frührente gehen, sollen das Recht erhalten, trotz Frührente weiter zu arbeiten, ähnlich wie es heute schon den über Fünfundsechzigjährigen erlaubt ist. Allerdings würde ich die Frührente versicherungsmathematisch korrekt berechnen, so dass dem Staat dadurch keine Kosten entstehen. Da die Rente zusätzlich zum Lohn verfügbar ist, vermute ich, dass sich dann ein zweiter Arbeitsmarkt für ältere Arbeitnehmer herausbilden wird, auf dem viele neue Stellen zu niedrigerem Lohn und mit niedrigeren Leistungsanforderungen entstehen. Das Problem der Altersarbeitslosigkeit würde sich lösen.

SPIEGEL ONLINE: Wie soll das in der Praxis laufen?

Sinn: Wer will kann ihm Rahmen heutiger Grenzen in die neue Frührente gehen und weiterarbeiten. Aber er muss dazu sein altes Arbeitsverhältnis kündigen und ein neues begründen, entweder beim alten oder bei einem neuen Arbeitgeber. Den Lohn dafür muss man nicht festschreiben. Aber er wird vermutlich niedriger sein als heute. Dann wird es neue Stellen geben. Zugleich werden Einkommensverluste vermieden, weil ja Frührente und Lohn zusammen verfügbar sind. Das ist eine wirkliche Verbesserung. Die Unternehmen finden mehr Beschäftigung rentabel, und die Frührentner fallen nicht mehr ins Nichts, sondern sind durch das zusätzliche Arbeitseinkommen recht gut gesichert. Der Lebensstandard kann gehalten werden, und vor allem werden sie nicht ins Abseits gestoßen.

SPIEGEL ONLINE: Angesichts der angespannten Haushaltslage dürften zusätzliche Zahlungen vom Staat kaum möglich sein?

Sinn: Vergessen sie nicht die Bedingung der versicherungsmathematischen Abschläge. Deswegen entstehen dem Staat keine Kosten. Im Gegenteil, da die älteren Mitbürger Steuern zahlen, hätte er sogar noch Überschüsse zu erwarten. Damit wäre allen Genüge getan: Der Staat bekäme zusätzliche Steuern. Die Unternehmen schaffen Jobs. Und die älteren Arbeitnehmer bleiben in Lohn und Brot.

SPIEGEL ONLINE: Trotzdem entsteht der Eindruck, ältere Arbeitnehmer sind nicht mehr ihr Geld wert.

Sinn: Der Eindruck entsteht heute, wo sie ausgesteuert werden. In meinem System werden Ältere begehrt sein. Das erhöht ihre Wertschätzung in der Gesellschaft und auch das Selbstwertgefühl. Ältere Arbeitnehmer haben sehr viel Erfahrung. Sie können zwar nicht mehr so powern wie 40-jährige, aber es ist einfach Unsinn, sie ins Abseits zu stellen. Gerade auch angesichts des Nachwuchsdefizits müssen wir einen Weg finden, sie wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

SPIEGEL ONLINE: Sie selbst sind 57 Jahre alt. Wenn man Ihnen einen solchen Vorschlag unterbreiten würde: Würden Sie annehmen?

Sinn: Klar. Wenn ich in der Rente wäre, würde ich gerne die Gelegenheit nutzen, irgendwo noch hinzu verdienen zu können. Noch einmal: Es geht um die älteren Arbeitnehmer, die gegen ihren Willen aus dem Arbeitsmarkt in die Frührente gedrängt wurden, oder solche, die nicht mehr so intensiv arbeiten wollen wie vorher und deshalb aus eigenem Antrieb in die Frührente gehen. Es ist ein Unding, dass diese Menschen überhaupt nicht mehr arbeiten dürfen, bloß weil sie die Rente bekommen. Dieses Arbeitsverbot hilft niemandem. Es richtet nur Schäden an, psychologische wie volkswirtschaftliche. Das Recht auf Arbeit darf man den Rentnern nicht nehmen.

Das Interview führte Jörn Sucher