Mindesteinkommen statt Mindestlohn

Interview mit Hans-Werner Sinn, VDI nachrichten, 21.12.2007, Nr. 51/52, S. 9

Ifo-Chef Hans-Werner Sinn über Lohnsubventionen und die Hoffnung, von der eigenen Arbeit leben zu können.

Mindestlöhne beschneiden die Beschäftigungsmöglichkeiten von gering Qualifizierten. Dies behauptet Ifo-Chef Hans-Werner Sinn mit Blick auf die drohenden Kündigungen bei privaten Postdiensten. Er plädiert für Mindesteinkommen, weil damit Menschen Arbeit bekämen, die sonst keine Chance hätten.

VDI nachrichten: Herr Professor Sinn, spaltet sich die deutsche Gesellschaft - vor allem bei der Einkommensverteilung?

Sinn: Ja, durch die Kräfte der Globalisierung - vor allem wegen der Beteiligung der exkommunistischen Länder am weltweiten Wirtschaftsprozess - haben sich die Knappheitsverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital zugunsten des Kapitals verändert. Die Arbeiter sind die Verlierer dieses Globalisierungsprozesses. Diese Entwicklung ist seit 15 Jahren in allen Ländern des Westens deutlich sichtbar. In Deutschland ist der Druck auf die Löhne wegen der unmittelbaren Nachbarschaft zu den ex-kommunistischen Gebieten stärker als in anderen Ländern, aber der Gegendruck ist ebenfalls stärker. Im Endeffekt hat sich die Lohnverteilung in Deutschland bislang weniger ausgespreizt als beispielsweise in angelsächsischen Ländern. Dafür ist mehr Arbeitslosigkeit als dort entstanden.

Sie halten Mindestlöhne generell für falsch. Warum?

Sinn: Ich bin generell für eine Politik der Sicherung von Mindesteinkommen, damit eine Gesellschaft auch dann überleben kann, wenn die Spannungen zwischen Arm und Reich deutlich zunehmen. Wir müssen uns hierauf rechtzeitig einstellen.

Wie wollen Sie Mindesteinkommen realisieren?

Sinn: Der Lebensstandard muss am unteren Ende der Einkommenskala - im Verhältnis zu den Durchschnittseinkommen - fixiert werden. Dazu taugen keinesfalls Mindestlöhne, weil sie diejenigen mit Arbeitslosigkeit bedrohen, denen man ja gerade helfen will. Das beste Beispiel sind die bereits ausgesprochenen Mitarbeiterkündigungen bei den Konkurrenten der Deutschen Post AG. Der bessere Weg besteht in einem System staatlicher Zuzahlungen, wie es mit der aktivierenden Sozialhilfe entwickelt wurde. Gemeint ist eine negative Einkommensteuer, wo das Finanzamt Geld auszahlt statt einnimmt, wenn das eigene Einkommen zu gering ist. Damit würden gering Qualifizierte auf Dauer ein zweites - staatliches - Einkommen erhalten, das das selbst verdiente Einkommen ergänzt.

Und die Vorteile des Mindesteinkommens überwiegen die der Mindestlöhne?

Sinn: Eindeutig: Bei allgemeiner Einführung des Mindestlohnes werden wir viele zusätzliche Arbeitslose bekommen, die bezahlt werden müssen. Wir schätzen, dass etwa 1,9 Mio. Arbeitsplätze verloren gingen, wenn tatsächlich für alle Branchen 9 € im Osten und 9,80 € im Westen als Mindestlohn fixiert würden. Das System der staatlichen Zuzahlung - zur Gewährleistung einer sozialen Mindestsicherung - hat dagegen drei wesentliche Vorteile: Es sorgt für den gleichen oder einen höheren Lebensstandard, es integriert die Menschen, die sonst arbeitslos bleiben würden und es erhöht das Sozialprodukt, weil Menschen im Arbeitsprozess produktiv tätig werden, die zuvor ohne Arbeit waren. Darauf hätte Frau Merkel setzen können anstatt sich auf die Neiddebatte einzulassen.

Aber dieses System kostet den Staat eine Menge?

Sinn: Nein. Heute bezahlt der Staat die Arbeitslosen komplett. Im neuen System bezuschusst er die ehemals Arbeitslosen nur, während sie arbeiten.

Der Staat zahlt weniger für den Einzelnen aber er muss u. U. für mehr Köpfe bezahlen.

Sinn: Ja, das ist wohl so, weil auch die Löhne heute bereits beschäftigter gering Qualifizierter unter Druck geraten. Nach unseren Berechnungen wird die Sache aber dennoch eher billiger für den Staat. Zugleich werden Nettoeinkommensverluste auf breiter Front abgeblockt. Ja, bei entsprechender Ausgestaltung der negativen Einkommensteuer werden die Nettoeinkommen am unteren Rand der Einkommenverteilung sogar steigen.

Und Arbeit ist hierzulande genügend vorhanden?

Sinn: Wieviel Arbeit da ist, ist eine Frage ihres Preises. Da staatliche Zuzahlungen niedrigere Löhne ermöglichen, ohne den Lebensstandard zu beeinträchtigen, lohnt es sich für die Unternehmen, im Inland Arbeitsplätze für gering Qualifizierte zu schaffen oder sie zu erhalten, statt sie ins Ausland zu verlagern. Außerdem werden die privaten Haushalte ebenfalls mehr Leute einstellen.

Aber den Kombilohn - bei dem der Staat ja auch zuzahlt - lehnen Sie nicht ab?

Sinn: Beim Kombilohn-Modell zahlt der Staat das Geld an die Unternehmen. Das ist nicht sehr zielgenau, weil dann auch Menschen bezuschusst werden, die gar nicht bedürftig sind. Es gibt hohe Streuverluste.

Nun gibt es in Deutschland seit Jahren Mindestlöhne am Bau. Und nach einer Studie von Ökonomen der Universität Regensburg sollen dadurch in Westdeutschland keine Jobs vernichtet worden sein.

Sinn: Sie interpretieren die Studie falsch. Die Ergebnisse für Westdeutschland waren statistisch nicht signifikant, denn dort wurden ohnehin schon in den meisten Fällen Tariflöhne gezahlt, so dass die Zahl der beobachteten Lohnsteigerungen zu klein war, um daraus Schlüsse ziehen zu können. Anders war es in Ostdeutschland. Dort wurden auf breiter Front Lohnerhöhungen erzwungen, weil die Arbeitgeber dort aus den Arbeitgeberverbänden ausgeschieden waren und keine Tariflöhne zahlten. Die Studie belegt statistisch signifikant, dass es dort zu massiven Arbeitsplatzverlusten kam. Da im Osten unseres Landes die gleichen institutionellen Verhältnisse am Arbeitsmarkt herrschen wie im Westen, zeigt die Studie zweifelsfrei, dass eine Lohnerhöhung unter den deutschen institutionellen Rahmenbedingungen die Beschäftigung verringert - auch in Westdeutschland.

In Frankreich, Großbritannien oder den USA gibt es seit Jahren Mindestlöhne.

Sinn: Die Erfahrungen sind sehr unterschiedlich. Mindestlöhne sind nicht problematisch, wenn sie unter den Marktlöhnen liegen. In den USA beträgt der Mindestlohn gerade 4 €. Nur 1,1 der Arbeitnehmer beziehen dort den Mindestlohn. In Großbritannien sind es 1,9 und in Frankreich - bei hohem Mindestlohn - 15 . Das französische System erzeugt Massenarbeitslosigkeit - vor allem bei den gering Qualifizierten. Die sich häufenden Unruhen unter den Jugendlichen in den französischen Vorstädten zeigen eindrucksvoll, wohin das führt. Was glauben Sie, warum Claude Triebet, der französische Präsident der europäischen Zentralbank, in seiner Rede vom fünften Dezember die Bundesrepublik eindringlich vor Mindestlöhnen gewarnt hat. Er hatte das abschreckende Beispiel seines Landes vor Augen.

Wie kann sicher gestellt werden, dass, wer eine Vollzeittätigkeit ausübt auch noch in Zukunft davon leben kann?

Sinn: Die Aussage, dass man von seiner Hände Arbeit leben können muss, ist einer der dümmsten Sprüche des Jahres, weil er ein irreales Postulat zur Doktrin erhebt. Was ist, wenn das nicht geht? Wenn Menschen, obwohl gesund, nicht so leistungs- und motivationsstark sind, dass sie einen sozial akzeptablen Lebensstandard mit ihrer Hände Arbeit selbst erwirtschaften können? Was, wenn die internationale Niedriglohnkonkurrenz die Löhne, die ein Arbeitsplatz tragen kann, unter das Existenzminimum senken? Wollen sie die Arbeitgeber zwingen, die Arbeitnehmer trotzdem einzustellen? Dann müssten Sie ein Zentralverwaltungssystem einführen. Man kann den Arbeitslosen nur mit Zuschüssen zum Lohn, nicht aber mit Mindestlöhnen helfen. Das ist kein politisches Postulat, sondern eine ökonomische Tatsache.

Das Interview führte Dieter Heumann