Niedrige EZB-Zinsen sind des Sparers Leid

Interview mit Hans-Werner Sinn, netzwerk, 01.01.2014, Nr.1, S. 26 - 27

Interview mit Prof. Dr. Hans-Werner Sinn vom ifo Institut München zur Konjunktur und zu Europa.

Der Koalitionsvertrag enthält eine Menge an Eckpunkten. Welche Punkte betrachten Sie besonders kritisch?

Mit Abstand den Mindestlohn, denn mit seiner Einführung wird sich ein Paradigmenwechsel in der deutschen Wirtschaftsgeschichte vollziehen. Der Mindestlohn wird sich als Katastrophe für den deutschen Arbeitsmarkt erweisen.

Aus welchem Grunde?

Wir werden zukünftig von Wahl zu Wahl immer wieder neue politisch motivierte Gebote für den Mindestlohn bekommen. Der Mindestlohn wird einen Regimewechsel hierzulande vollziehen: Der Staat mischt sich in die Lohnbildung ein. Das ist in einer Marktwirtschaft nicht seine Aufgabe, sondern die der Tarifpartner. Der Mindestlohn wird die Agenda 2010 rückgängig machen und uns in die Zeit vor der Kanzlerschaft Gerhard Schröders zurückwerfen - als Deutschland der kranke Mann Europas war.

Wieviel Prozent der Arbeitnehmer hierzulande werden vom Mindestlohn betroffen sein?

Nach dem sozioökonomischen Panel bedeutet ein Mindestlohn von 8,50 Euro, dass 18 Prozent der westdeutschen und 26 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmer betroffen sein werden. Ein solcher Mindestlohn wird vor allem in den neuen Bundesländern zu einer umfangreichen Zerstörung von Arbeitsplätzen für Geringqualifizierte führen. Er wird aber wegen der Lohnabstände auch bewirken, dass das allgemeine Lohnniveau anzieht.

Aber ist es nicht das Anliegen einiger Politiker, die Agenda 2010 zurückzuschrauben, um die Arbeitswelt gerechter zu gestalten?

Wie gesagt, mit dem Mindestlohn wird die Agenda 2010 rückabgewickelt. Immerhin wurden durch die Reformen am Arbeitsmarkt seinerzeit mehr als zwei Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, da damals der „Mindestlohn", den ein Unternehmen bieten musste, um mit dem Sozialstaat konkurrieren zu können, gesenkt wurde. Das hat die gesamte Lohnskala ins Rutschen gebracht und die Preise in Deutschland gesenkt. Dadurch ist die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft im Euroraum maßgeblich gestärkt worden. Die Arbeitslosigkeit ging, nachdem sie zuvor 35 Jahre gestiegen war, dramatisch zurück.

Und Sie sehen diesen Erfolg jetzt in Gefahr?

Ja, aber die Folgen werden nicht schon sämtlich in der nächsten Legislaturperiode zu beobachten sein. Die negativen Effekte werden über einen längeren Zeitraum eintreten. Betroffen sein werden alle Wirtschaftszweige, weil sich die gesamte Lohnskala nach oben verschiebt - was unweigerlich auch die Preise erhöht. Deutschland gibt seine mühsam errungene Wettbewerbsfähigkeit wieder auf.

Welche wichtigen Themen vermissen Sie im Koalitionsvertrag?

Vor allem das Thema Euro. Hierzu werden im Koalitionsvertrag keinerlei Perspektiven vermittelt, obwohl der Euroraum nicht funktioniert: So haben wir z. B. in Südeuropa eine Massenarbeitslosigkeit, die kaum noch beherrschbar ist. Hierzu verlangen die Menschen endlich Antworten. Griechenland, Spanien und andere Länder sind seit langem in einer großen Krise - Italien und Frankreich drohen wirtschaftlich abzurutschen. Bei den beiden großen Ländern aber kann man die zunehmend fehlende Wettbewerbsfähigkeit nicht durch Geld ausgleichen, wie dies im Falle der kleineren versucht wird. Dazu fehlen die Mittel.

Was ist zu tun, wobei auch die neue Bundesregierung maßgeblich gefordert wäre?

Ich plädiere dafür, den Euro künftig als atmende Währung aufzustellen. Kurzum, es bedarf einer Währungsunion, in die Länder eintreten, aus der sie aber auch wieder geordnet austreten können, wenn sie für die Union aufgrund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit zu einem Problem geworden sind. Das Problem wird zunehmend drängender und muss angegangen werden.

Auch die Finanzierung der Forderungen bleibt im Koalitionsvertrag offen. Lässt sich der Finanzminister von den guten Konjunkturprognosen für die nächsten Jahre leiten?

Der ifo Konjunkturindex hat sich - nach einer Schwächephase im letzten Winter und Frühjahr - wieder kräftig erholt. Der deutschen Wirtschaft geht es prächtig, und wir erwarten, dass das BIP 2014 wieder deutlicher - um etwa 1,5 bis 2 Prozent - zunehmen wird. Kurzfristig hat der Finanzminister daher sicherlich recht, wenn er auf eine gute Konjunktur und als Folge auf eine weiterhin positive Einnahmenentwicklung für den Staat setzt. Aber die im Koalitionsvertrag ausgesprochenen Forderungen bedürfen der längerfristigen Finanzierung.

Zuversichtlich sind Sie auch wieder für die Exporte. Der - trotz mehrerer Zinssenkungen - stabile Euro steht dem nicht entgegen?

Ich sehe bei den gegenwärtigen Kursen - um 1,35 Dollar - keinerlei Gefahr für unsere Exporte. Betrachtet unter Leistungsbilanzgesichtspunkten, ist der Euro für Deutschland sogar eher zu niedrig bewertet. Unsere Leistungsbilanzüberschüsse sind mit 7 Prozent des BIP sehr hoch. Das ist eine erhebliche Gefahr. Viel zu teuer ist der Euro natürlich für Länder wie Griechenland.

Die Eurozone insgesamt steckt in diesem Jahr noch in der Rezession, aber im kommenden Jahr geht es bergauf?

Für 2014 erwarten wir für den Euroraum ein minimales Wachstum in der Gegend von 0,5 Prozent, vielleicht ein bisschen mehr. Griechenland bleibt vielleicht in der Rezession, Gleiches gilt wohl für Italien. Nicht einmal Frankreich ist sicher. Wir können also im kommenden Jahr allenfalls mit einer sehr verhaltenen Belebung der Konjunktur in der Eurozone rechnen. Die Aufschwungkräfte kommen von woanders her.

Die EZB will die Euro-Konjunktur auf Schwung bringen und hat den Leitzins jüngst ein weiteres Mal um 0,25 Prozentpunkte auf 0,25 Prozent gesenkt. Ein erfolgreicher Schritt?

Der Schritt ist falsch, weil er die Rolle des Kapitalmarktes unterhöhlt und die deutschen Sparer benachteiligt. Deutsche Banken haben davon nichts, weil sie keine Kredite mehr von der Bundesbank beziehen. Die Vorteile liegen bei den Banken Südeuropas, die sich in riesigem Umfang bei der EZB verschuldet haben. Sie werden nun mit Zinsgeschenken der EZB aufgepäppelt, die zulasten der deutschen Steuerzahler gehen, die ja die größten Aktionäre der EZB sind und Anspruch auf deren Zinseinnahmen haben.

Zu den Deflationssorgen der EZB. Sie halten eine Deflation in einzelnen Euroländern für erforderlich?

Ja, wir brauchen eine Deflation in den Krisenländern der Eurozone. Diese Länder sind durch die Inflationsblase, die ihnen der Euro gebracht hat, zu teuer geworden. Also müssen sie durch eine rezessive und deflationäre Phase gehen, damit sie ihre immer noch zu hohen Preise senken und wieder wettbewerbsfähig werden.

Aber würde eine Deflation nicht weitere erhebliche Gefahren bergen?

Eine Deflation ist eine bittere Medizin, aber die einzige die wirkt, wenn man in einem Währungsraum zu teuer geworden ist. Man muss sich gesundschrumpfen. Fälschlicherweise ist die EZB bemüht, die südlichen Länder mit fiskalischen Maßnahmen zu beleben. Allerdings wäre eine Deflation im Euroraum insgesamt nutzlos, weil sie zu einer Euroaufwertung führen würde.

Also sollte es im Durchschnitt der Eurozone nicht zu einer Deflation kommen. Wie erreicht man das?

Um wettbewerbsfördernde Effekte über das Preisniveau zu erzielen, wäre es erforderlich, dass die Problemländer um 20 bis 30 Prozent billiger werden. Damit es aber nicht zu einer Deflation im Euroraum insgesamt kommt, müssten die übrigen Euroländer entsprechend inflationieren. Das zeigt, in welchem Dilemma die Eurozone steckt. Die Niedrigstzinspolitik der EZB führt zunehmend zu Problemen: Die Sparer erleiden inflationsbedingt - Verluste. Die Banken erzielen keine ausreichenden Erträge mehr im Kreditgeschäft und die Lebensversicherungen haben zunehmend Mühe, die Zusagen gegenüber ihren Versicherten einzuhalten. Ja, wir erleben in Deutschland bereits die Enteignung der Sparer. Die Kapitalsammelstellen - also Banken und Lebensversicherungen erhalten aufgrund der Niedrigzinspolitik der EZB keinen ausreichenden Ertrag mehr für das Geld, das ihnen die Sparer anvertrauen. Folglich können sie auch dem Sparer nur einen Zins bieten, der - will man keine exorbitanten Risiken wagen - nicht einmal mehr die Inflationsrate auffängt.

Die Sparer reagieren: Sie legen ihr Geld zunehmend in Immobilien an. Die Folge: Die Immobilienpreise steigen - zum Teil kräftig. Befürchten Sie eine Blase?

Vom Niedrigzins profitieren die Kreditnehmer. Der Häuslebauer kommt zu niedrigem Zins zum Darlehen, und er investiert in einen Markt, an dem die Preise steigen. Die Gefahr einer Immobilienblase sehe ich noch nicht. Der deutsche Immobilienmarkt ist nicht mit der Situation in einigen südeuropäischen Ländern vergleichbar, wo es vor Jahren zum Platzen einer Blase gekommen ist. Die Immobilienpreissteigerungen hierzulande sind vergleichsweise gering. Und erfahrungsgemäß dauert es anderthalb Jahrzehnte, bis eine Blase platzt. Unser Boom ist viel schwächer als es der Boom in Südeuropa war, und er ist gerade drei Jahre alt. Also kein Grund zur Panik am Immobilienmarkt.

Und am Aktienmarkt?

Am Aktienmarkt ist es in der Tat bereits zu erheblichen Preissteigerungen gekommen. Solange der Euro besteht und die Regierungen der Südländer ihre politische Macht einsetzen, um den Zins niedrig zu halten, so lange sind Aktien die bessere Geldanlage.

Also weiter aufwärts?

Die hoch verschuldeten Länder, die an Niedrigstzinsen ein existenzielles Interesse haben, werden sich auch in Zukunft durchsetzen, da sie klar in der Mehrheit im EZB- Rat sind. Das sollte die deutschen Börsenkurse - unter Schwankungen - hochhalten. Aber für den Aktionär empfiehlt sich immer auch ein Blick zur „Leitbörse" Wall Street, von der wir uns nicht ganz befreien können. 

Interview: Dieter W. Heurnann, Freier Journalist