"Der Wirtschaft geht es prächtig"

Interview mit Hans-Werner Sinn, VDI Nachrichten Nr. 51/52, 20.12.2013, S. 6

WIRTSCHAFT: Die Stimmung in den deutschen Chefetagen steigt, für 2014 wird ein Wachstum von bis zu 2 % erwartet. Doch ifo Präsident Hans-Werner Sinn fürchtet, dass die Politik der Großen Koalition mittelfristig den Aufschwung gefährdet.

VDI NACHRICHTEN: Herr Sinn, "Deutschlands Zukunft gestalten" steht über dem Koalitionsvertrag. Wird er diesem Anspruch gerecht?

SINN: Dieser Optimismus entspricht einer Selbsteinschätzung, die nicht von allen geteilt wird. Der Sachverständigenrat etwa spricht von einer rückwärtsgewandten Wirtschaftspolitik.

Und wie lautet Ihr Urteil? Welcher Punkt ist für Sie der kritischste?

Mit Abstand der Mindestlohn, denn mit seiner Einführung wird sich ein Paradigmenwechsel in der deutschen Wirtschaftsgeschichte vollziehen. Der Mindestlohn wird sich als Katastrophe für den deutschen Arbeitsmarkt erweisen. Wir werden künftig von Wahl zu Wahl immer wieder neue politisch motivierte Gebote für den Mindestlohn bekommen.

Im Koalitionsvertrag werden viele zusätzliche Ausgaben angekündigt. Ist deren Finanzierung gesichert?

Es geht um 25 Mrd. €, das sind ca. 1% des Bruttoinlandsprodukts. Da wird man die Verschuldung erhöhen, aber zum Glück um nicht sehr viel.

Aber zusätzliche Schulden soll es doch nicht geben. Steuererhöhungen auch nicht.

Ich bin dennoch überzeugt davon, dass man notfalls zu einer höheren Verschuldung greifen wird. Auch die Partnerländer fordern, dass sich Deutschland höher verschuldet. Das heißt natürlich nicht, dass ich einer höheren Verschuldung das Wort rede, im Gegenteil- aber sie wird bei Bedarf kommen.

Vielleicht lässt sich der Finanzminister von den guten Konjunkturprognosen für die nächsten Jahre leiten?

Wahrscheinlich, der ifo Konjunkturindex hat sich jedenfalls - nach einer Schwächephase im letzten Winter und Frühjahr - wieder kräftig erholt. Der deutschen Wirtschaft geht es prächtig, und wir erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt 2014 wieder deutlicher - um etwa 1,5% bis 2% - zunehmen wird. Kurzfristig hat der Finanzminister daher sicherlich recht, wenn er auf eine gute Konjunktur und als Folge auf eine weiterhin positive Einnahmenentwicklung für den Staat setzt. Aber die im Koalitionsvertrag ausgesprochenen Forderungen bedürfen der längerfristigen Finanzierung.

Was trägt derzeit den Aufschwung hierzulande?

Die Exporte und die Binnenwirtschaft. Im Inland werden vor allem die Bauinvestitionen ein wichtiger Konjunkturtreiber bleiben: Viele heimische Investoren investieren nach den in der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise erlittenen Verlusten ihr Geld hierzulande - insbesondere ins Betongold. Belebt haben sich seit dem Sommer auch die Ausrüstungsinvestitionen. Die Unternehmen investieren wieder.
Und schließlich dürfte auch der private Konsum weiterhin maßgeblich zur Konjunkturbelebung beitragen.

Zuversichtlich sind Sie auch wieder für die Exporte. Der starke Euro steht dem nicht entgegen?

Ich sehe gegenwärtig, also bei einem Euro/Dollar-Kurs von rund 1,35 $, keinerlei Gefahr für unsere Exporte. Betrachtet unter Leistungsbilanzgesichtspunkten, ist der Euro für Deutschland sogar eher zu niedrig bewertet. Unsere  Leistungsbilanzüberschüsse sind mit 7% des Bruttoinlandsprodukts sehr hoch. Das ist eine erhebliche Gefahr ...

Eine Gefahr für die anderen europäischen Länder?

Nein, ich sehe eher eine Gefahr für uns: Wir sammeln über den Export Vermögen im Ausland an, aber dieses Vermögen bestand in den letzten Jahren überwiegend aus Ansprüchen der Deutschen Bundesbank gegen die EZB, des deutschen Staates gegen die Krisenländer oder der deutschen Anleger gegen die von ihnen selbst garantierten Rettungsfonds. All diese Ansprüche könnten sich eines Tages in Luft auflösen. Unsere Exportüberschüsse sind zum erheblichen Teil mithilfe der Druckerpressen in den südlichen Ländern bezahlt worden, die die Bundesbank hat verleihen müssen. Wie sollen Länder, die ja wirtschaftlich am Boden liegen, ihre Importe bezahlen können? Das geht nur mithilfe der Druckerpresse.

Das heißt, der Überschuss in unserer Leistungsbilanz muss sinken?

Richtig, denn der Stabilitäts-und Wachstumspakt verlangt, dass der Leistungsbilanzüberschuss eines Mitgliedlandes nicht mehr als 6 % betragen darf. Der deutsche Überschuss liegt aber wie gesagt bei 7%. Aber eigentlich geht es darum: Die EU will mehr Rettungskredite von der Bundesrepublik und zugleich weniger deutsche Exporte sehen. Beides zusammen geht nicht.

Kommen wir vom Export zu den Investitionen der Unternehmen. Die ziehen nach längerer Pause wieder an. Warum?

Es werden nicht mehr nur Ersatzinvestitionen getätigt. Modernisierungs- und in zunehmendem Maße auch Erweiterungsinvestitionen sind im Visier der Unternehmen. Dass sich Ausrüstungsinvestitionen beleben, erfreut uns natürlich besonders: Sie stabilisieren die Binnennachfrage und erhöhen mittelfristig die Produktionskapazitäten. Das zeigt, dass auch die Unternehmen an den Aufschwung glauben.

Der private Verbrauch hängt entscheidend von der Beschäftigungslage ab. Da gab es im November enttäuschende Zahlen - ein Ausrutscher?

Ich glaube nicht, dass es mehr war. Zunächst erwarten wir einen anhaltend lebhaften privaten Verbrauch. Dazu beitragen wird zunächst sogar die Erwartung des Mindestlohns. Aber längerfristig betrachtet dürfte der Mindestlohn den Konsum senken, denn in der Summe wird das Lohn- und Gehaltsaufkommen dann wegen der vielen Jobverluste zurückgehen: Zwar erhalten die Leute, die Arbeit haben, einen höheren Lohn, doch schrumpft die Zahl der Leute, die Arbeit haben.

Schlägt die gute deutsche Konjunktur auch auf die Eurozone durch?

2014 erwarten wir für den Euroraum ein minimales Wachstum in der Gegend von 0%, vielleicht ein bisschen mehr. Griechenland bleibt vielleicht in der Rezession, Gleiches gilt wohl für Italien. Nicht einmal Frankreich ist sicher. Wir können also im kommenden Jahr allenfalls mit einer sehr verhaltenen Belebung der Konjunktur in der Eurozone rechnen.

D. W HEUMANN